Das goldene Ufer
vertraute, so hätte sie sich und ihn doch lieber unter dem Schutz eines Erwachsenen gesehen.
Walther schüttelte den Kopf. »Dann müssten wir das Baumharz, das wir für Frau Frähmke holen sollen, die ganze Zeit mit uns schleppen. Zuerst suchen wir die Pilze. Wir brauchen ja nicht in die Richtung zu gehen, in der wir die Fremden gesehen haben. Auf der anderen Seite des Forstwegs gibt es ebenfalls ein paar gute Plätze.«
Gisela nickte, und eine Zeitlang stapften die beiden stumm nebeneinander her. Dann kam Walther erneut auf den Unterricht am Vormittag zu sprechen. »Auch wenn der Pastor uns ungerecht behandelt und schlägt, dürfen wir nicht verzagen. Irgendwann wird es uns zum Vorteil ausschlagen, das schwöre ich dir!«
»Bei den Soldaten bin ich nie geschlagen worden«, antwortete Gisela missmutig. »Doch beim Pastor habe ich das Gefühl, als würde es ihm Freude machen, uns zu quälen.«
»Damit müssen wir leben! Weißt du, Gisela, mein Vater und mein Großvater waren Förster in diesem Revier, und ich will es einmal nicht schlechter haben als sie.«
Walther biss die Zähne so fest zusammen, dass die Wangenknochen weiß hervorstachen. Solange er bei seiner Mutter gelebt hatte, waren ihm nie solche Gedanken gekommen. Doch die Zeit beim Regiment hatte ihn gelehrt, dass jemand wie er nur durch Bildung aufsteigen konnte. Und wenn er diese lediglich mit Schmerzen erringen konnte, dann musste es eben sein.
Gisela war der Ehrgeiz des Jungen fremd. Auch lastete der Tod der Eltern ihr noch zu sehr auf der Seele, als dass sie an eine mögliche Zukunft denken konnte. Für sie galt es erst einmal, Pilze zu sammeln, damit die Köchin und die Mamsell zufrieden waren. Was danach kam, würde Gott im Himmel entscheiden. Bei dem Gedanken fiel ihr auf, dass sie bereits etliche Tage nicht mehr gebetet hatte. Daher kniete sie sich auf den weichen Waldboden, faltete die Hände und sprach ein Ave-Maria.
Als Walther ihre Stimme vernahm, drehte er sich verwundert um und erinnerte sich nun erst wieder daran, dass sie katholisch war. Nach Aussage des Pastors waren die Katholiken alle üble Sünder und Götzenanbeter, doch nachdem er Giselas Eltern und sie selbst kennengelernt hatte, kamen sie ihm nicht schlechter vor als die Leute auf dem Schloss und im Dorf. Gisela mochte er sogar weitaus lieber als alle anderen, die er kannte. Daher ließ er sie beten, während er Pilze sammelte und einige besonders schöne Exemplare unauffällig in ihren Korb legte.
Das Mädchen bemerkte es und war gerührt. Lächelnd trat sie zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich werde so viel lernen, wie ich kann. Das verspreche ich dir!«
»Ich werde dir dabei helfen. Wenn es nicht anders geht, bleiben wir am Abend noch eine Weile in der Küche sitzen und üben das, was du am Tag durchnehmen musstest.«
»Danke!« Obwohl Gisela noch immer lächelte, liefen ihr vor Erleichterung die Tränen über die Wangen. In Walther hatte sie einen Freund, der selbstlos zu ihr hielt und ihr half, das Leben in der Fremde zu ertragen. Es mochte vielleicht irgendwo Verwandte ihrer Eltern geben, die sich ihrer annehmen würden, doch sie wusste weder deren Namen noch die Orte, an denen diese lebten. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als hier auf Renitz zu bleiben und das Beste daraus zu machen.
»Hast du das eben nicht auch gehört?« Walthers leise Frage riss das Mädchen aus seinen Gedanken. Sie lauschte nun ebenfalls und wagte dabei kaum zu atmen.
»Das sind Schritte, wenn du mich fragst!«, antwortete sie.
»Unsere Körbe sind voll genug, also sollten wir zusehen, dass wir zum Forsthaus kommen. Zum Glück müssen wir nicht auf die heimlichen Schleicher zugehen!« Walther nahm seinen Korb mit der Linken, um im Notfall die Pistole ziehen zu können. Auch wenn er noch nie damit geschossen hatte, hoffte er, mit ihr ein paar Landstreicher im Zaum halten zu können.
Die nächste halbe Stunde wurde zur Nervenprobe. Immer wieder hörten die beiden Schritte hinter sich, die näher und näher kamen. Obwohl der Abend noch fern war, wurde es im Wald ungewöhnlich dunkel. Walther schaute verwundert nach oben und sah durch die Wipfel der Bäume auf einen pechschwarzen Himmel, der jeden Augenblick Blitze schleudern konnte.
»Es zieht ein Gewitter auf.« Er überlegte, ob er nicht auch Giselas Korb nehmen sollte, damit das Mädchen rascher vorwärtskam. Allerdings würde er dann nicht rechtzeitig genug an die Pistole kommen.
»Geht’s noch?«, fragte er seine
Weitere Kostenlose Bücher