Das goldene Ufer
hätten ja gerne einen kleinen Anbau für arme katholische Waisen errichtet, doch der Magistrat hat uns die Erlaubnis verweigert. Wir dürfen nicht einmal eine richtige Schule unterhalten, sondern müssen sogar die Unterweisung in Religion in den städtischen Schulen vornehmen.«
»Die Leute ringsum sind wohl alle evangelisch?«, fragte Gisela, deren Gedanken sich wieder der Gegenwart zuwandten.
Schwester Magdalena nickte. »Es handelt sich um Ketzer der schlimmsten Sorte. Sie missgönnen uns sogar dieses kleine Haus, das uns ein dem wahren Glauben verhafteter Bürger nach seinem Tod als Heimstatt überlassen hat. Doch mit Gottes Hilfe und der der Heiligen Jungfrau werden wir alle Prüfungen bestehen.«
Obwohl sie ein eher zartes Geschöpf mit sanften Gesichtszügen war, klang Schwester Magdalena mit einem Mal kämpferisch. Gisela ahnte, dass die Nonne bereit war, für ihren Glauben zu leiden, und fühlte eine spontane Sympathie für Schwester Magdalena in sich aufsteigen. Die freundliche Frau würde ihr gewiss helfen, die nächsten Monate zu überstehen.
14.
G raf Renitz verließ das kleine Kloster zu Giselas großer Enttäuschung, ohne sich von seinem Schützling zu verabschieden. Zu gerne hätte das Mädchen ihm Grüße für Walther, Cäcilie und Frau Frähmke aufgetragen. Dann aber wurde ihr klar, dass sie wohl kaum den Mut aufgebracht hätte, ihn darum zu bitten.
Da Schwester Magdalena ihr nach Kräften half, sich im Kloster einzugewöhnen, vergaß sie über all dem Neuen den Grafen und seinen Besitz und dachte nur noch an den Abenden, nachdem die letzte Andacht gehalten worden war, an Walther. Er war neben der Köchin die einzige Person auf Renitz, die sie vermisste.
Viel Zeit zum Nachdenken ließ man ihr nicht, denn die Mutter Oberin der kleinen Nonnengemeinschaft war der Ansicht, dass Müßiggang Sünde sei. Daher lernte Gisela am Vormittag nach der Frühandacht drei Stunden lang unter Schwester Magdalenas Anleitung Schreiben, Lesen und Rechnen. Nach dem Mittagsgebet und dem Essen half sie mit, das Kloster sauber zu halten, Flachs zu spinnen, und erledigte Handreichungen, die einem Mädchen von elf Jahren anstanden. Oft saß Schwester Magdalena während des Spinnens neben ihr und lehrte sie Lieder zu Ehren des Allerhöchsten und der Heiligen Jungfrau und die Gebete an all jene Schutzheiligen, die ihr in ihrem weiteren Leben helfen konnten.
Die Tage verstrichen und wurden zu Wochen, während draußen die Temperaturen immer tiefer sanken und der Eiswind aus dem Osten den ersten Schnee mit sich brachte. Weihnachten stand vor der Tür. Die langen Kriegsjahre hatten die Menschen verarmen lassen, und die wenigen Katholiken in der Stadt besaßen nicht das Geld, den fünf Klosterfrauen nennenswerte Spenden zukommen zu lassen. Trotzdem gelang es diesen mit geringen Mitteln, einen wohlschmeckenden Punsch für den ersten Feiertag anzusetzen und Pfefferkuchen zu backen.
Da Cäcilie ihr bereits auf Renitz ein wenig Backen und Kochen beigebracht hatte, konnte Gisela tatkräftig mithelfen. Doch mehr als nach Punsch und Lebkuchen sehnte sie sich nach einer richtigen Christmette. Diese hatte sie in ihrem bisherigen Leben nur zwei Mal miterleben dürfen, und so betrat sie am Heiligen Abend mit einem feierlich entrückten Gefühl die kleine Kirche, die die Stadtoberen den Katholiken zugestanden hatten. Schwester Magdalena und ihre Mitschwestern hatten das Innere des Kirchleins mit frischem Tannengrün geschmückt und vorne am Altar eine in dickes Tuch mit goldenen Borten gewickelte Puppe als Jesuskindlein in eine krippenartige Wiege gelegt.
Der alte Pfarrer zelebrierte die Christmette mit Hilfe zweier Ministranten, jungen Burschen, die etwa in Graf Diebolds Alter waren. Obwohl der Geistliche mehrmals den Text vergaß und sich erst mühsam daran erinnern musste, kam es Gisela so vor, als hätte sie nie etwas Schöneres erlebt. Mangels eines Chores sangen die Nonnen fromme Lieder, und Gisela begriff, warum sie so eifrig hatte singen lernen müssen. Ihre helle, klare Stimme mischte sich mit den Alt- und Sopranstimmen der frommen Frauen und gab dem Gesang einen jungen, munteren Klang.
Schließlich kniete Gisela wieder neben Schwester Magdalena im Kirchengestühl und sah deren Blick wohlgefällig auf sich ruhen. »Du machst deine Sache gut, Kind«, wisperte die Nonne ihr zu.
Dieses Lob ließ Gisela erröten. Dann aber machten ihre Gedanken sich selbständig, und für einige Augenblicke erschien es ihr, als säße anstatt
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