Das goldene Ufer
Erkenntnis hin beschloss er, Walther freundlicher zu behandeln als bisher, und klopfte ihm auf die Schulter.
»Ich verspreche dir einen Krug Bier, wenn du mir diesen kleinen Gefallen tust. Das, was die Witwe hier auf den Tisch stellt, kann vielleicht ein Bauer essen, aber kein Edelmann.«
Auch gut, dachte Walther, dem sowohl die Frühsuppe wie auch das Brot schmeckten, dann bin ich eben ein Bauer. »Ich werde mir die wichtigsten Sachen aufschreiben, damit ich sie Euch richtig mitteilen kann. Aber Ihr solltet trotzdem nicht zu lange wegbleiben, Herr Graf«, antwortete er ruhig.
Zwar ahnte Walther, dass sein Gegenüber ihm frühestens in ein oder zwei Stunden folgen würde, da er ihm jedoch keinen Strick um den Hals legen und ihn mit sich zerren konnte, sagte er sich, dass Diebold selbst wissen musste, was er tat.
Die beiden jungen Männer verließen gemeinsam das Haus, aber draußen auf der Gasse trennten sich ihre Wege. Während Walther dem Hörsaal entgegenstrebte, suchte Diebold erst einmal den Gasthof auf, in dem sie die erste Nacht verbracht hatten, und ließ sich ein reichhaltiges Frühstück auftischen.
6.
W alther hatte seinen zweitbesten Rock angezogen und seinen Hut aufgesetzt. Als er sich der Universität näherte, traf er auf eine Gruppe junger Männer mit kürzeren Röcken und farbigen Kappen. Einer von ihnen stieß seinen Begleiter an und zeigte auf Walther. »Schau dir diesen Burschen an! Der will wohl von Anfang an gut Wetter bei den Herren Professoren machen.«
Bevor Walther sich’s versah, schlug der Sprecher ihm den Hut vom Kopf, und sein Kommilitone trat grinsend darauf.
»He, was soll das?«, rief Walther empört, doch die beiden gingen lachend weiter. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Hut aufzuheben, den Dreck abzuklopfen und zu versuchen, ihn wieder in Form zu bringen.
Er hatte keine Zeit, seinem Ärger nachzuhängen, denn er wollte rechtzeitig den Saal erreichen, in dem die neuen Studenten mit den Gepflogenheiten an der Universität vertraut gemacht werden sollten. Zu Walthers Verwunderung war der Raum nur halb gefüllt. Die meisten der neu immatrikulierten Studenten waren ähnlich schlicht gekleidet wie er, doch bei einigen sah er kurze Röcke, die an Uniformen gemahnten, und ähnliche Mützen wie die der Kerle, die ihm den Hut ruiniert hatten.
Nur wenige schienen einander zu kennen, doch die meisten waren gerade dabei, Bekanntschaften zu schließen. Auch Walther trafen einige fragende Blicke, aber er war zu angespannt für ein Gespräch. Er suchte sich einen Platz, zog Notizbuch und Bleistift hervor und schrieb Ort und Datum auf das erste Blatt.
»Schaut euch den an! Das ist auch wieder so ein Streber«, hörte er jemand hinter sich flüstern. Er drehte sich um, konnte den Sprecher aber nicht ausmachen, und wandte sich wieder seinem Notizbuch zu. Selten zuvor hatte er sich so unwohl gefühlt wie zu dieser Stunde. Die anderen Studenten hatten Gymnasien absolviert und waren gewohnt, in größeren Gruppen zu lernen, doch er hatte mit Diebold zusammen Privatunterricht erhalten. Mit einem Mal war er zutiefst verunsichert. Noch während er über seine Situation nachdachte, wurde die Tür geöffnet, und mehrere Herren traten ein. Unter ihnen befand sich Professor Artschwager.
Sofort erhoben sich alle Neulinge von ihren Plätzen. Die Herren, die Rock und Zylinder trugen, musterten die Studienanfänger mit prüfenden Blicken. Ein paar schienen die künftigen Studenten sogar insgeheim zu zählen, und Walther hatte den Eindruck, als wären die Herren nicht sonderlich zufrieden. Sie sagten jedoch nichts, sondern überließen Artschwager das Wort. Der Professor stellte sich hinter das Rednerpult und begrüßte die jungen Männer.
»Ich freue mich«, fuhr er fort, »dass Sie sich entschlossen haben, die für Ihr Leben entscheidenden Jahre auf unserer ehrwürdigen Georg-August-Universität zu verbringen.«
»Gewiss nicht freiwillig. Mein alter Herr wollte mich nicht nach Heidelberg lassen«, murmelte ein Student schräg hinter Walther.
Dieser widerstand dem Impuls, sich umzudrehen, weil er nicht auffallen wollte. Eines aber wurde ihm klar: Die Ansichten der Studenten und des Lehrkörpers schienen sich nicht gerade zu decken.
Professor Artschwager reagierte nicht auf das leise Gemurmel, sondern setzte seinen Vortrag fort. In scharfem Tonfall warnte er alle Neulinge davor, sich in solche Zirkel wie Burschenschaften oder studentische Orden locken zu lassen, und nannte dann eine
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