Das goldene Ufer
erhob er sich ebenfalls. Auf dem Weg zur Treppe versuchte er den Blick der Schankmagd einzufangen, doch diese war gerade dabei, andere Reisende zu bedienen, und drehte sich nicht nach ihm um.
4.
A m nächsten Morgen zog Walther seinen dunkelgrauen Sonntagsrock an und setzte den erst kürzlich erstandenen Hut auf. Pastor Künnen war ähnlich dezent gekleidet wie er, nur in Schwarz, Diebold hingegen glich einem Prachthahn. Er trug einen dunkelroten Rock mit Goldstickerei, eine hellblaue Weste und ein schneeweißes Halstuch, das auf eine komplizierte Art geknotet worden war. An seiner linken Seite hing ein Degen, und in der rechten Hand hielt er einen Gehstock.
»Wir können aufbrechen!«, sagte er mahnend, obwohl er als Letzter fertig geworden war.
Künnen musterte ihn und fragte sich, was die Witwe Haun zu einem solchen Auftreten sagen würde. Doch das war zum Glück nicht seine Sache. Mit einem dünnen Lächeln stand er auf und verließ den Gasthof. Diebold schob Walther zur Seite und schritt als Zweiter durch die Tür.
Es ging durch etliche schmale Gassen in einen ruhigen Teil der Stadt, in dem von Studentenherrlichkeit wenig zu spüren war. Schließlich blieb Künnen vor einem schlichten Fachwerkhaus stehen, wartete, bis seine beiden Schützlinge aufgeschlossen hatten, und schlug den Türklopfer an.
Kurz darauf wurde geöffnet, und eine Bedienstete blickte heraus. Bei deren Anblick verzog Diebold das Gesicht, denn die Frau war über vierzig und hässlich wie die Sünde. Das erschien ihm nicht gerade als gutes Omen. Seine Laune sank weiter, als die Dienstmagd sie zu ihrer Herrin führte.
Die Witwe Haun war noch älter als ihre Dienerin und so mager, als könne sie sich nicht genug zu essen leisten. Die hellen Augen unter den fast unsichtbaren Brauen wirkten lebendig, blickten den Gästen aber abweisend entgegen. Zu diesem Eindruck trug auch die Gewandung der Frau bei, die selbst im Haus eine dunkle Haube und ein bodenlanges, schwarzes Kleid ohne die geringste Verzierung trug.
Zu lachen scheint diese Frau nicht gelernt zu haben, fuhr es Walther durch den Sinn. Aber er machte sich nichts daraus, während Diebold so wirkte, als hätte der Pastor ihn in den Vorhof der Hölle geführt.
Die Witwe musterte die beiden jungen Männer und krauste bei Diebolds Anblick die Nase. »Ich muss den Herren mitteilen, dass ich in meinem Haus nur studentische Tracht und schlichte Röcke und Westen von dunkler Farbe dulde«, begann sie mit schneidender Stimme.
Diebold schnaubte leise, aber die Witwe ließ sich nicht beirren. »Ich muss den Herren ebenfalls mitteilen, dass die Haustür um acht Uhr abends verschlossen wird. Sie haben also vorher hier zu sein! Ausnahmen gibt es nicht. Des Weiteren ist es in meinem Haus verboten, Branntwein zu trinken. Wein und Bier sind in geringem Maße gestattet, aber nur so viel, wie ich zuteile. Frauenbesuch ist strengstens verboten, ebenso unmäßige Besuche von anderen Studenten. Außerdem darf in meinem Haus weder gesungen noch gelärmt werden. Ist dies den Herren klar?«
Während Walther nickte, sah Diebold aus, als wolle er die Frau erwürgen. Daran ist nur mein Vater schuld, dachte er wütend. Zu Hause wäre er zur Mutter gegangen, um sich gegen eine solche Zumutung zu verwahren. Doch diese saß zwei Tagesritte entfernt auf Renitz, und er konnte ihr seine Beschwerden nur schriftlich mitteilen.
Während er mit seinem Schicksal haderte, sich den Forderungen einer solchen Person beugen zu sollen, zählte die Witwe noch etliche Punkte auf, welche die Herren Studiosi unbedingt zu beachten hätten. So war es ihnen verboten, ihr eigenes Dienstpersonal einzustellen, und sie würden außerhalb der Essenszeiten, die sie ihnen nannte, in ihrem Haus nichts aufgetischt bekommen.
Die Litanei war schier endlos, so dass selbst Walther innerlich den Kopf schüttelte. Doch anders als Diebold sah er es als Privileg an, überhaupt studieren zu dürfen, und nahm sich daher vor, Frau Haun möglichst nicht zu verärgern.
Diebold hingegen konnte ihre Wirtin nicht ernst nehmen. Er würde sich nicht all die Annehmlichkeiten verbieten lassen, die das Studentenleben für ihn ausmachte, nämlich die Abende, an denen scharf gezecht wurde, heimliche Treffen mit schönen Mädchen und geselliges Zusammensein mit ihren Kommilitonen.
Den beiden jungen Männern blieb jedoch nicht die Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen, denn kaum war die Witwe mit ihrem Vortrag ans Ende gelangt, führte der Pastor sie bereits aus dem
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