Das goldene Ufer
Haus und schlug den Weg zur Georg-August-Universität ein, um sie dem für sie zuständigen Professor vorzustellen.
Artschwager besaß ein Haus etwas abseits des Campus und schien sehr beschäftigt, denn bereits eine größere Schar von Studenten in verschiedenfarbigen Mützen standen im Flur und warteten darauf, zu dem gestrengen Herrn vorgelassen zu werden.
Walther richtete sich auf eine längere Wartezeit ein, doch Künnen schritt an den Studenten vorbei, klopfte an die Zimmertür und wurde eingelassen. Nur wenige Augenblicke später kehrte er zurück und winkte seinen Schützlingen nachzukommen.
Der kräftig gebaute Professor erwartete sie hinter einem schon in die Jahre gekommenen Schreibtisch. Sein Gesicht erinnerte Walther an einen Nussknacker, die Hände wirkten so, als wären sie es eher gewohnt, Eisen zu biegen, als eine Feder zu halten.
Ohne die beiden Neuankömmlinge eines Blickes zu würdigen, entließ er einen Studenten, der mit Armesündermiene vor ihm stand, mit einer harschen Geste. »Diesmal entgehen Sie der verdienten Strafe! Beim nächsten Mal werden Sie für ein Semester der Universität verwiesen. Das gilt auch für die anderen draußen vor der Tür. Richten Sie ihnen aus, dass ich morgen den Schaden, den Sie und Ihre Kumpane angerichtet haben, beglichen wissen möchte. Sonst lernen Sie alle mich kennen!«
Der Student schien froh zu sein, dem kantigen Mann entkommen zu können, denn er lief so rasch zur Tür hinaus, dass er gegen Walther stieß und diesen beinahe zu Fall brachte.
Ein ärgerliches Schnauben des Professors verriet, dass er den Zwischenfall bemerkt hatte. Artschwager sagte jedoch nichts, sondern bat Pastor Künnen, auf dem zweiten Stuhl im Raum Platz zu nehmen. Walther und Diebold mussten stehen bleiben.
Artschwager kümmerte sich nicht um die beiden, sondern unterhielt sich mit Künnen, der einer Bemerkung zufolge vor gut dreißig Jahren gleichzeitig mit ihm hier in Göttingen studiert hatte. Während Diebold nicht gewohnt war, so missachtet zu werden, und eine düstere Miene zog, nutzte Walther die Zeit, sich umzusehen. Neben dem Schreibtisch standen ein großer Bücherschrank und eine ebenfalls mit Büchern vollgestellte Anrichte. Die meisten Titel waren lateinisch, und obwohl er diese Sprache unter Künnens Ägide gründlich gelernt hatte, gelang es ihm nicht bei allen, diese zu übersetzen. Angesichts dessen begriff Walther, dass er sich besonders anstrengen musste. Ohne ein gutes Abschlusszeugnis würde er zeit seines Lebens auf die Gnade des jeweiligen Grafen Renitz angewiesen sein.
Für Diebold sah die Sache anders aus, denn als Angehöriger des Hochadels würde er auch bei schlechten Noten einen hohen Posten im Militär, der Verwaltung oder sogar am königlichen Hof erhalten. Es half jedoch nichts, sich über die Ungerechtigkeiten der Welt aufzuregen, sagte Walther sich. Tausende anderer waren in einer weitaus schlechteren Position als er und würden niemals die Möglichkeit erhalten, sich über den engen Horizont ihres Standes hinaus bilden zu können. Allein dafür musste er Graf Renitz dankbar sein.
Unterdessen schienen die alten Herren bester Stimmung und lachten herzhaft. »Das waren noch Zeiten!«, sagte Artschwager, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Wir waren wenigstens noch Kerle von altem Schrot und Korn. Aber die heutige Jugend …«
Er winkte mit einer resignierenden Geste ab, erinnerte sich dann an die Begleiter seines alten Studienfreunds und wandte sich Diebold zu. »Der Herr wird es sich gefallen lassen müssen, etwas schlichtere Kleidung zu tragen. Sich einer Burschenschaft anzuschließen, rate ich ihm wie auch dem anderen jungen Mann dringend ab. In diesen Zirkeln versammeln sich vor allem Radaubrüder und Kerle, die unsere von Gott gewollte Ordnung umstürzen wollen.«
Obwohl Walther während des letzten Feldzugs gegen Napoleon bis nach Paris gelangt war, hatte er in den letzten Jahren den engeren Umkreis von Renitz nur zu jener einen Militärübung verlassen können. Nachrichten über politische Ereignisse und das Leben außerhalb erreichten das Schloss nur mit großer Verspätung, und die Zeitungen, die die Gräfin sich kommen ließ, durften die Bediensteten nicht lesen. So befand er sich in einem seltsamen Zwiespalt aus Erlerntem und fast bäuerlicher Unwissenheit, und das betraf auch alles, was bei einem Studium zu beachten war.
Diebold musterte Artschwager mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Hat der junge Herr nicht gehört?«,
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