Das goldene Ufer
Geld ausgestattet, übernachtete er in den Nächten, in denen er mit seinen Kameraden zechte, einfach im Gasthaus.
Das kam auch Walther zupass, denn der hatte ihn dadurch weniger am Hals und verlebte einen recht angenehmen Sommer, der nur dadurch getrübt wurde, dass die Stimmung unter den Studenten weiterhin schlecht war. Immer wieder gab es behördliche Schikanen, und Studenten, die etwas zu unvorsichtig von Demokratie, Verfassung oder gar von nationaler Einheit sprachen, wurden rigoros der Universität verwiesen.
Als das Semester vorbei war, verließen etliche Studenten Göttingen mit dem festen Vorsatz, ihr Studium an einer liberaleren Universität fortzusetzen. Diese Wahl hatte Walther nicht. Er durfte nicht einmal den Ort bestimmen, an dem er seine Ferien verbringen konnte. Da Diebold sich daran gewöhnt hatte, von ihm bedient zu werden, war ihm der Weg nach Renitz erneut versperrt. Der alte Graf hatte auf Anraten seines Arztes hin gemeinsam mit seiner Gemahlin die Schweiz aufgesucht, um seine Lunge in der klaren Bergluft zu stärken, und sein Sohn fuhr zu ihnen.
Ohne Diebold und seine Mutter hätte der Aufenthalt in den Bergen recht angenehm werden können. Doch Gräfin Elfreda hatte ebenso wie ihr Sohn durchaus Spaß daran, Walther zu drangsalieren. Einmal versteckte sie, als Sänftenträger sie und Diebold zu einem hochgelegenen Aussichtspunkt gebracht hatten, ihren Fächer in der Handtasche und tat dann so, als hätte sie ihn vergessen. Sogleich winkte sie Walther zu sich.
»Lauf ins Hotel und bringe mir meinen Fächer aus Elfenbein. Ich brauche ihn.« Ihr Quartier lag mehr als eine gute deutsche Meile entfernt – und um etliches tiefer.
Walther wusste sehr wohl, dass sie mit ihm spielte. Doch er hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen. So schnell er konnte, lief er den schmalen Weg ins Tal hinab, eilte ins Hotel und suchte die Zimmer der Gräfin auf. Zu seinem Glück besaß Elfreda von Renitz einen zweiten Fächer aus Elfenbein. Diesen steckte er ein und trabte dann wieder den Berg hinauf. Währenddessen saßen Ihre Erlaucht und Diebold unter zwei von den Schweizer Sänftenträgern gehaltenen Sonnenschirmen auf Klappsesseln, tranken Wein, der mit frischem Quellwasser verdünnt war, und amüsierten sich köstlich über den Narren, der sich in dieser Hitze abhetzen musste.
Als Walther mit hochrotem Gesicht und schwitzend ankam, reckte die Gräfin ihm ihren Fächer entgegen. »Du bist umsonst gelaufen. Ich hatte ihn doch bei mir!«
Einer der Schweizer sagte ein Wort in seinem Dialekt, den sie glücklicherweise nicht verstand, und riet Walther, sich Gesicht und Arme an der Quelle abzukühlen und erst danach zu trinken. »Sonst schlägt es Ihnen auf die Lunge, so wie es bei dem Ehemann der Gnädigen geschehen ist«, setzte er hinzu.
Erbost darüber, dass die Sänftenträger sich auf Walthers Seite schlugen, befahl die Gräfin diesen, sie und Diebold wieder ins Tal zu tragen. Walther überlegte kurz, ob er gleich mitgehen oder vorher etwas trinken sollte, und entschied sich für Letzteres. Er mochte zwar auf die Gunst des Grafen angewiesen sein und wurde von dessen Gemahlin und Sohn wie ihr persönlicher Leibeigener behandelt. Doch hatte alles seine Grenzen. Er ging zur Quelle hinüber und steckte die Arme ins kühle Wasser. Während er sich das Gesicht wusch, dachte er daran, dass er nur noch vier Semester durchstehen musste. Danach würde er einen Weg suchen, um sein Leben anders zu führen, als seine beiden Quälgeister es planten.
Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass die Gräfin und Diebold an und für sich bedauernswerte Menschen waren. Sie vermochten sich an nichts zu erfreuen, außer an ihrer eigenen Bosheit. Weder hatten sie ein Gespür für die herrliche Bergwelt, die sie hier umgab, noch für die Menschen, die sie auf ihren Reisen trafen. Er hingegen konnte mit Ehrfurcht vor Gottes Schöpfung zu den gewaltigen Felsriesen aufschauen, deren Häupter weiß gekrönt in der Sonne leuchteten, und vermochte sich an dem klaren, kühlen Wasser dieser Quelle zu erfreuen.
Mit einem Mal fühlte er sich privilegiert. Auch wenn er den Herrschaften als Diener zur Verfügung stehen musste, würde er von hier Eindrücke mit in die Zukunft nehmen, die nur wenigen Menschen zuteilwurden. Fast bedauerte er es, dass er sie nicht mit Gisela teilen konnte. Doch er schwor sich, ihr von dieser Landschaft zu erzählen, und hoffte, für deren Erhabenheit die richtigen Worte zu finden.
5.
M it dem Grafen kam
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