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Das goldene Ufer

Das goldene Ufer

Titel: Das goldene Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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oder er kam, um zu betteln. Walther erschien nicht.
    Am Abend tröstete Gisela sich damit, dass er vielleicht am nächsten Tag eintreffen würde. Doch auch da wartete sie vergeblich. So musste sie sich wohl mit dem Gedanken abfinden, dass er entweder Graf Diebold hatte begleiten müssen oder in Göttingen zurückgeblieben war. Doch was für einen Grund könnte er haben, die Universitätsstadt nicht zu verlassen? Hatte er vielleicht ein Mädchen getroffen, das ihm interessanter schien als die Heimat und damit auch sie selbst? Der Gedanke tat weh, und Gisela musste sich in Erinnerung rufen, dass sie katholisch war und es auch bleiben musste, während Walther dem protestantischen Irrglauben anhing, der ihn, wenn sie ihn nicht mit ihren Gebeten erretten konnte, einmal schnurstracks in die Hölle führen würde.
    »Wenn er einem Mädchen nachläuft, hat er es nicht besser verdient«, sagte sie zu sich selbst, als sie am Abend zu Bett ging. Dennoch schloss sie ihn auch diesmal in ihr Nachtgebet ein und bat ihn in Gedanken, ihr wenigstens Nachricht zu schicken.
    Erst am Mittwoch der kommenden Woche erschien der Posthalter des Nachbardorfs am Dienstboteneingang und überreichte der Mamsell einen Brief für Gisela. »Mit den besten Empfehlungen«, sagte er dabei und leckte sich die Lippen.
    »Es ist sehr heiß heute, nicht wahr?«, sagte Frau Frähmke lächelnd. Da der Brief von Walther kam und sie hoffte, dass das Schreiben den Seelenfrieden ihres Schützlings wiederherstellen würde, wies sie Cäcilie an, dem Posthalter einen kühlen Trunk und einen Imbiss vorzusetzen.
    »Das haben Sie sich verdient«, sagte sie zu dem erfreut grinsenden Mann und machte sich auf die Suche nach Gisela. Sie fand das Mädchen im Garten.
    »Ich habe einen Brief für dich, mein Kind!«, rief sie Gisela zu.
    Diese rannte so schnell auf sie zu, dass sie ganz außer Atem bei ihr ankam. »Ein Brief, sagen Sie? Ist er von Walther?«
    Frau Frähmke versteckte den Umschlag hinter ihrem Rücken und lächelte freundlich. »Wie viele Menschen schicken dir Briefe, Gisela?«
    »Nur einer, Walther, aber nur gelegentlich.«
    »Heute ist so eine Gelegenheit!« Damit reichte die Mamsell dem Mädchen den Umschlag.
    Diese griff nach ihm wie eine Ertrinkende nach dem Strohhalm, öffnete ihn und las rasch die ersten Zeilen.
    »Oh nein! Er musste tatsächlich Graf Diebold nach Pyrmont begleiten. Ich bin mir gewiss, dass dieser unmögliche Mensch ihn wie einen Sklaven behandeln wird.«
    »Auch wenn dir an Graf Diebold einiges missfällt, solltest du in der Wahl deiner Bezeichnungen für ihn wählerischer sein, mein Kind. Es könnte sein, dass dich jemand hört und es weiterträgt. Was der junge Renitz daraufhin von dir verlangen dürfte, weißt du trotz deiner Jugend genau.«
    »Ja, Frau Frähmke! Verzeihen Sie. Es wird nicht wieder vorkommen.« Gisela wischte sich die Tränen ab, die ihr die Enttäuschung in die Augen trieb, und atmete tief durch.
    »Finden Sie es nicht auch ungerecht, wie stark Graf Diebold unser Leben beherrscht, Frau Frähmke? Seine Erlaucht ist doch ein viel angenehmerer Herr.«
    »Seine Erlaucht hat den Fehler begangen, die Erziehung seines Sohnes ganz seiner Gemahlin zu überlassen. Ich will ja nichts sagen, aber der Knabe durfte noch mit acht Jahren in ihrem Bett schlafen. Auch sonst hat sie ihn verzärtelt, wo es nur ging, und ihm das Gefühl gegeben, er würde gleich hinter unserem Herrn Jesus Christus kommen, oder war es noch vor dem Heiland? Auf jeden Fall war er, als sein Vater ihn als Fähnrich in sein Regiment holte, nichts als ein völlig verzogener Balg.«
    Frau Frähmkes Miene zeigte allzu deutlich, dass sie den jungen Grafen ganz anders behandelt hätte.
    Gisela erinnerte sich daran, wie Diebold als Fünfzehnjähriger in Fähnrichsuniform erwachsene Männer geschlagen hatte, nur um seinen Vorrang vor den einfachen Soldaten zu unterstreichen, und gab der Mamsell recht. »Auch wenn ich mich gefreut hätte, Walther wiederzusehen, ist es ganz gut, dass Seine Hochwohlgeboren dem Schloss fernbleibt. Ich weiß nicht, ob wir ihn noch einmal hätten überlisten können, so wie letztes Weihnachten.«
    »Vermutlich«, antwortete Frau Frähmke und erinnerte Gisela dann lächelnd daran, auch den Rest des Briefes zu lesen.
    Das Mädchen vertiefte sich sofort wieder in das Schreiben. Als sie zu dem Absatz kam, in dem Walther ihr seine Hilfe anbot, gleichgültig, was auch geschehen mochte, musste sie wieder mit den Tränen kämpfen.
    Die Mamsell

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