Das Gottesgrab
Marmorplatte vom Sand säuberte, die Zähne der Baggerschaufel zwischen die Oberkante der Platte und den Kalksteinrahmen setzte und sie nach vorn kippte. Als die Platte fiel, zuckte Elena zusammen. Die Archäologin entsetzte solch rücksichtsloser Vandalismus, aber zum Glück war der Sand weich, und die Platte blieb heil. Sie war immer noch entschlossen, Blutrache zu nehmen, aber sie wollte auch sehen, was sich hinter der Marmorplatte befand. In jeder erdenklichen Weise war dies der Höhepunkt ihrer Karriere.
Alle strahlten mit ihren Taschenlampen in die dunkle Öffnung. Eine fast vollständig von Sand bedeckte Treppenflucht führte hinab in einen Gang, der in den rohen Fels gehauen und gerade so hoch und breit war, dass zwei Männer nebeneinander stehen konnten. Elena folgte Nicolas und Philipp Dragoumis fünfzig Schritte in den Berg, ehe der Gang sich in eine höhlenartige Kammer öffnete. Als sie ihre Taschenlampen aufgeregt umherschwenkten, merkten sie allerdings schnell, dass sie abgesehen von Staub und Schutt leer war. Nur ein zerbrochenes Trinkgefäß, eine Tonamphore, das Heft eines Dolches sowie die Knochen und Federn eines Vogels, der sich vermutlich vor Jahrhunderten hierher verirrt hatte, lagen auf dem Boden. Allein die Wände belohnten die Anstrengungen, die sie unternommen hatten, um diesen Ort zu finden. In den rauen Sandstein waren Skulpturen gemeißelt, die reliefartig Szenen des Kreuzweges und aus Alexanders Leben darstellten und die man mit lebensechten Artefakten geschmückt hatte.
Die erste Skulptur zu ihrer Linken zeigte Alexander in einem Kinderbett als Baby, das wie Herkules Schlangen im Würgegriff hat. Offenbar hatten einmal echte Schlangen in den Händen gesteckt, auch wenn sie mit der Zeit verwest waren und jetzt nur noch hauchdünne, durchsichtige Häute in seinen geballten Fäusten hingen. In der zweiten Szene versuchte Alexander, sein sagenumwobenes Pferd Bucephalus zu bändigen. Die dritte Skulptur zeigte ihn mit anderen Jünglingen zu Füßen eines älteren Mannes, vielleicht Aristoteles; er schien von einer Pergamentrolle vorzulesen, die seit langem zerfallen war und deren Reste vor seinen Füßen lagen. Die vierte Skulptur stellte Alexander auf dem Rücken eines Pferdes dar, der seine Männer in den Kampf führte. In der fünften Szene bohrte er einen Speer mit Holzschaft in die Brust eines persischen Soldaten, der eine bronzene Axt hielt. Dann kam der berühmte Gordische Knoten. Der Legende nach sollte derjenige, der den Knoten löste, die Herrschaft über Kleinasien erlangen. Da es unmöglich war, ihn zu lösen, war Alexander das Rätsel mit der ihm eigenen Direktheit angegangen: Mit dem Schwert hatte er das Seil durchtrennt, welches hier durch einen mit Schnitzereien verzierten Baumstamm dargestellt wurde, dessen eines Ende sich um das Metalljoch eines Streitwagens wand, während das andere in einer Spalte der Felswand verankert war. Die nächste Szene zeigte, wie er das Orakel von Siwa befragte und der Hauptpriester ihm seine Göttlichkeit versicherte. Und so ging es weiter, eine beeindruckende Darstellung seiner Siege, seiner Rückschläge und seines Todes. In der letzten Szene stieg seine Seele einen Berg hinauf, um sich zu den anderen Göttern zu gesellen, die ihn als einen der ihren begrüßten.
Die Lichter ihrer Taschenlampen tanzten über die faszinierenden Skulpturen und schienen sie nach zweitausenddreihundert Jahren völliger Abgeschiedenheit mit Leben zu erfüllen. Niemand wagte zu sprechen. Obwohl dies ein bemerkenswerter Fund war, war er nicht das, was sie gesucht hatten und was sie brauchten. Entweder hatten es die Schildknappen mit Alexanders Leichnam nie bis an diesen Ort geschafft, oder es waren schon Plünderer vor ihnen hier gewesen.
«Ich glaube es nicht», knurrte Nicolas und ballte die Hände zu Fäusten. «Ich glaube es einfach nicht, verdammte Scheiße. Nach all unserer Mühe und Arbeit.» Frustriert schrie er auf und trat gegen die Felswand.
Elena ignorierte seinen Wutanfall und hockte sich vor die Skulptur, auf der Alexanders Seele den Berg hinaufstieg. «Da ist eine Inschrift», sagte sie zu Dragoumis.
«Was besagt sie?»
Sie wischte den Staub weg und richtete die Taschenlampe auf den Fuß des Berges. «Steig auf in die geheimen Himmel, Alexander» , übersetzte sie laut, «während dein Volk hier unten trauert.»
«Da ist noch eine», sagte Costis und richtete seine Taschenlampe auf den Sockel der Skulptur, die Alexander als Baby mit den
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