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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Wahrheit, glaubte Oliver, handelte es sich um keine
»atmosphärischen Störungen«; es war etwas viel
Schlimmeres. Die Rückkehr des Mittelalters war es, was da um die
Erdkugel kroch, überall verbreitete es erneut seine
tintenschwarze Unwissenheit, wie vormals das Öl aus dem
geborstenen Rumpf der Valparaíso strömte, und es
gab nichts, überhaupt nichts, das ein gewöhnlicher,
lediglich reicher Atheist tun konnte, um dagegen einzuschreiten.
    Cassie stützte sich aufs Kompaßgehäuse,
umklammerte es mit der Verzweiflung einer Säuferin, die sich an
einem Laternenpfahl Halt verschafft. Sie hatte keine Vorstellung mehr
davon, wie sich das Leben mit klarem Kopf gestaltete, erinnerte sich
nicht mehr daran, wie sich müheloses Bewegen, Atmen und Denken
angefühlt hatte. Eine Hand auf den gequälten Bauch
gepreßt, starrte sie auf den Monitor des
Zwölfmeilenradars. Nebel, immer nur Nebel, als stammten die
Bilder von einem ausschließlich Anomalien und Existenzangst
vorbehaltenen Schwachsinnigen-TV-Sender, dem Migräne-Kanal.
    Plötzlich stand Pater Thomas neben ihr, streckte ihr eine
halboffene Hand entgegen. Im Handteller lag ein Häufchen
Cornichons, zweifellos ein Teil seiner Ration. Cassie wunderte sich
nicht über seinen Großmut. Am Vortag hatte sie beobachtet,
daß er sich zu einer ebenso mildtätigen wie verbotenen
Handlung über die Steuerbordreling lehnte und den armen
Schweinen, die unten in ihren Behausungen vor sich hinstöhnten,
eine Anzahl Entenmuscheln hinabwarf.
    »Ich hab’s nicht verdient.«
    »Essen Sie«, forderte der Priester sie auf.
    »Ich gehöre nicht mal an Bord des Schiffs.«
    »Essen Sie«, wiederholte der Geistliche.
    Cassie aß. »Sie sind ein guter Mensch, Pater.«
    Sie hob den Blick vom Zwölfmeilenradar, übers
Fünfmeilenradar und das Marisat-Computerterminal, lenkte ihn an
den Strand. Soeben entstiegen Marbles Rafferty und Lou Chickering dem
Motorboot Juan Fernández, kehrten von einer weiteren,
offensichtlich wieder völlig ergebnislosen Fangfahrt
zurück. Sie sprangen in die Brecher und wateten, die
Schleppangeln hinter sich herschleifend, an Land.
    »Nicht mal ’n alten Fahrradschlauch haben sie
rausgefischt«, seufzte Sam Follingsbee, ließ sich aufs
Manöverpult sacken. »Schade, ich weiß ’n
unglaublich tolles Rezept für vulkanisierten Gummi in
Meerrettichsoße.«
    »Halt die Klappe«, krächzte Crock
O’Corunor.
    »Hätten sie wenigstens ein, zwei Stiefel gefunden…
Ihr müßtet mal mein cuir tartare probieren.«
    »Halt’s Maul, sag ich!«
    Cassie nahm Joe Spicers Ausgabe der Kurzen Geschichte der Zeit vom Marisat-Computer und steckte es vorn unter den von Lou
Chickering geliehenen Rindsledergürtel. Als geschähe ein
Wunder, schien das Buch ihre Magenbeschwerden zu lindern. Sie
humpelte zur Funkstube.
    Pflichtgetreu saß Lianne Bliss auf ihrem Posten, das
Kurzwellenfunk-Mikrofon in der schweißigen Faust,
»…die SS. Karpag Valparaíso«, murmelte
sie, »siebenunddreißig Grad fünfzehn Minuten
nördlicher…«
    »Empfängst du irgendwas?«
    Die Funkoffizierin zog den Kopfhörer vom Schopf. Lianne Bliss
hatte eingesunkene Wangen und blutunterlaufene Augen; sie glich einer
alten Fotografie ihrer selbst, einem Daguerreotyp oder Mezzotinto, so
grau, fahl und runzlig war sie geworden. »Manchmal höre ich
was… Bruchstücke von Sportsendungen aus den Vereinigten
Staaten oder Wetterberichte aus Europa… Aber ich komme zu
niemandem durch. Pech für die Decksbesatzung, daß sie
nicht da ist. Es gibt nämlich ’ne große Neuigkeit.
Die Yankees haben in der Tabelle die Führung
übernommen.« Bliss setzt den Kopfhörer wieder auf und
beugte sich ans Mikrofon. »Siebenunddreißig Grad,
fünfzehn Minuten nördlicher Breite und sechzehn Grad,
siebenundvierzig Minuten westlicher Länge.« Sie nahm den
Kopfhörer ein zweites Mal ab. »Am schlimmsten ist das
Gejammer, nicht wahr? Bedauernswerte Bande… Wir haben wenigstens
unsere Hostien.«
    »Und die Muscheln.«
    »Muscheln mag ich ungern. Ich eß sie, aber sie
schmecken mir nicht.«
    »Kann ich verstehen.« Cassie strich mit dem
Handrücken über die Meeresgöttin auf Lianne
Bliss’ Oberarm. »Als ich das letzte Mal in so einer Klemme
gesteckt habe…«
    »Auf Saint Paul’s Rocks?«
    »Genau. Da hab ich mich blamabel benommen, Lianne. Ich hab um
Rettung gebetet.«
    »Ist doch nicht so tragisch, Liebchen. Ich hätte an
deiner Stelle das gleiche getan.«
    »Auch Atheisten bewahren sich ihr Hintertürchen,
behaupten die

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