Das Gottesmahl
Leute, und es ist wahr, es ist verdammt wahr.« Cassie schluckte, genoß den Nachgeschmack des Cornichons.
»Nein… nein, ich bin zu streng mit mir selbst. Diese
Redensart ist gar kein Argument gegen den Atheismus, sondern gegen
Hintertürchen.«
»Das ist die richtige Einstellung.«
Eine Woge kalten Graus schwemmte durch Cassies Geist.
»Lianne, ich muß dir was sagen.«
»Ja, was denn?«
»Ich glaube, ich falle in Ohnmacht.«
Die Funkoffizierin stand vom Stuhl auf; sie bewegte den Mund, aber
Cassie hörte kein Wort.
»Hilfe…«, lallte Cassie.
Die Woge schwoll, rumste gegen Cassies Schädeldecke. Langsam
sank sie nach unten, sackte durch den Fußboden der
Funkstube… durchs Deckhaus… durch das Wetterdeck… den
Rumpf… die Insel… ins Meer.
In den grünen Abgrund.
Hinab ins tiefe Schweigen.
»Das ist für Sie.«
Die Stimme klang dunkel; noch dunkler als Lianne Bliss’
Stimme.
»Das ist für Sie«, wiederholte Anthony van Horne,
reichte Cassie eine Scheibe abgestandenen amerikanischen Käse
mit schrumpeligen Ecken, in dessen Mitte ein Fleck grünen
Schimmels wucherte.
Cassie blinzelte. »War ich… besinnungslos?«
»Ja.«
»Lang?«
»Etwa eine Stunde.« Von Anthony van Hornes T-Shirt
grinste der Exxon- Tigerherab. »Sam und ich haben
beschlossen, daß die Notration an die Person fällt, die
als erste das Bewußtsein verliert. Viel ist’s nicht,
Doktor, aber es ist für Sie.«
Cassie klappte die Käsescheibe zweimal zusammen und schob
sich den unregelmäßigen kleinen Stapel in den Mund,
schlang ihn gierig hinunter. »Da-Danke…«
Sie stemmte sich von der Koje hoch. Van Hornes Kabine hatte die
doppelte Größe ihrer Unterkunft, war jedoch dermaßen
mit Inventar vollgestopft, daß sie eng wirkte. Überall sah
man Bücher und Zeitschriften verstreut; auf dem Sekretär
stand ein kompletter Pelican- Skakespeare in einem Band, auf
dem Waschbecken lag ein Stoß Marine-Wetterlogbücher, auf
dem Tischchen ein Karpag- Handbuch,eine Ausgabe Penthouse-Girls
auf dem Fußboden. Außerdem befand sich auf dem Tisch ein
Spiral-Notizbuch, dessen Umschlag ein Airbrush-Porträt Popeye
des Seemanns zeigte.
»Bestimmt möchten Sie ’n Schluck, was?« fragte
Anthony van Horne, hielt eine halbleere Flasche Monte Alban hoch,
MEZKAL CON GUSANO, stand auf dem Etikett. Meskal mit Wurm. Ohne eine
Antwort abzuwarten, goß der Kapitän von dem Getränk
in zwei Arco- Keramikbecher.
»Biologin zu sein, ist gegenwärtig die Hölle. Ich
weiß einfach zuviel.« Die Magenbeschwerden setzten wieder
ein, und Cassie preßte die Hand auf das vor den Bauch
geschnallte Exemplar der Kurzen Geschichte der Zeit. »Zuerst ist unser Fett weggeschmolzen, jetzt ist das
Eiweiß dran. Ich kann praktisch spüren, wie sich die
Muskeln zersetzen, rissig werden, dahinschwinden. Der Stickstoff geht
ins Blut über, in die Nieren…«
Gemächlich trank der Kapitän einen Schluck Meskal.
»Riecht mein Urin deshalb nach Ammoniak?«
Cassie nickte.
»Mein Atem stinkt auch«, sagte van Horne, gab ihr einen Arco- Becher.
»Ketosis. Früher, als die Menschen noch Gott zuliebe
fasteten, nannte man’s den ›Ruch der
Heiligkeit‹.«
»Wie lange dürft’s noch dauern, bis
wir…?«
»Das ist bei jedem individuell verschieden. Große Kerle
wie Follingsbee können voraussichtlich noch einen Monat lang am
Leben bleiben. Rafferty und Lianne… vielleicht vier oder
fünf Tage.«
Der Kapitän trank den Meskal aus. »Und dabei fing diese
Fahrt so gut an. Menschenskind, ich dachte sogar im Ernst, wie
könnten sein Gehirn retten. Inzwischen wird’s im Eimer
sein. Was meinen Sie?«
»Höchstwahrscheinlich.«
Anthony van Horne nahm am Tisch Platz, füllte neuen Meskal in
sein Trinkgefäß und kramte aus einem Gewirr von
Navigationskarten und Styropor-Kaffeebechern einen Messingsextanten
hervor. »Soll ich Ihnen mal was sagen, Doktor? Ich bin gerade
beschwipst genug, um Ihnen zu gestehen, daß ich Sie für
eine unglaublich attraktive und ganz wunderbare Frau halte.«
Die Bemerkung erzeugte bei Cassie ein sonderbares
Gefühlsgemisch aus Freude und Beunruhigung. Soeben hatte sich
die Tür zum Chaos geöffnet, und sie mußte sie
schleunigst zuschlagen. »Natürlich fühle ich mich
geschmeichelt«, antwortete sie, trank einen tüchtigen
Schluck Monte Alban. »Aber wir sollten nicht übersehen,
daß ich praktisch verlobt bin.«
»Ich bin auch mal praktisch verlobt gewesen.«
»So?«
»Ja, mit Janet Yost, sie war Stewardess bei der Chevron- Reederei.«
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