Das Gottesmahl
Mutter: Das war der Stachel. In grundlegender
Hinsicht hatten die Patriarchen, von denen die Bibel
zusammengestoppelt worden war, intuitiv die Wahrheit erkannt. Ihr
Geschlecht hatte die Welt von Anfang an beherrscht. Frauen waren nur
ein Abklatsch des Prototyps.
Im Kreis, immerzu im Kreis…
Natürlich hätte sie für den allen Beteiligten
draußen sichtbaren Sachverhalt zu gern eine andere
Erklärung parat gehabt. Gewiß wäre sie freudig
erleichtert gewesen, hätte sich eine der paranoiden
Phantastereien der Besatzung – CIA-Komplott, Koloß von
Rhodos, irgend so ein Humbug – als zutreffend nachweisen lassen.
Doch Cassie konnte ihre instinktiven Gefühle nicht
mißachten: Sobald Pater Thomas den Fund beim Namen nannte,
hatte sie unheimliche situative Anzeichen vorliegenden
Wahrheitsgehalts empfunden. Aber selbst wenn es ein Schwindel
wäre, überlegte Cassie, die zahllosen Schwachköpfe und
Nichtswisser der Welt würden ihn (falls sie davon erfuhren)
dennoch glauben und feiern, so wie sie ungeachtet aller Widerlegungen
an das Turiner Grabtuch, die Halluzinationen der Heiligen Bernadette
und tausenderlei sonstige Idiotien glaubten und sie feierten. Deshalb
drohte van Hornes Fracht, ob Wirklichkeit oder Gaunerei, so
gewiß ein neues Zeitalter mittelalterlicher Geistesverdunklung
einzuläuten (falls die Welt davon erfuhr), wie das Projekt
Manhattan die Ära der Atomwaffen eingeleitet hatte.
Schön, Gott war tot, ein Schritt in die richtige Richtung.
Doch diese Tatsache allein, so lautete Cassies Überzeugung,
hatte zwar in bezug auf Leute wie Pater Thomas, Schwester Miriam und
Leo Zook zweifelsfrei ihre Bedeutung, räumte jedoch die Gefahr
keineswegs aus. Ein Leichnam verkörperte eine allzu leicht
wegzuerklärende Sache. Das Christentum trieb es so ja schon seit
zweitausend Jahren. Die Phallokraten und Frauenfeinde würden
anführen, das unantastbare Wesen Gottes, sein unendlich weiser
Verstand und ewiger Geist seien noch so putzmunter wieeh und je.
Nachgerade unvermeidlich entsann sich Cassie einer ihrer
Lieblingsszenen in Runkleberg, ihrer feministischen
Nacherzählung des Abraham-Mythos – den Moment, in dem
Runklebergs Ehefrau Heide sich das eigene Menustrationsblut auf den
Händen verrieb. »Irgendwie werde ich verhindern«,
schwört Heidi, »daß es soweit kommt, ganz gleich, was
es mir abverlangt.«
Mit grimmiger Bedächtigkeit nahm Cassie Pater Thomas’
Kruzifix von der Wand, legte es auf die Koje und ergriff den in die
Eichenholztäfelung gehämmerten Nagel, zog ihn heraus.
Die Zähne zusammengebissen, bohrte sie sich den kleinen Nagel
in den Daumen.
»Au…«
Als sie den Nagel aus dem Daumen entfernte, quoll ein
großer, roter Tropfen hervor. Sie ging ins Bad, stellte sich
vor den Spiegel und bemalte sich: linke Wange, linker Oberkiefer,
Kinn, rechter Oberkiefer, rechte Wange. In Abständen pausierte
sie, um frisches Blut aus dem Einstich zu pressen. Ein dicker,
verschmierter Strich umgab Cassie Fowlers Gesicht, während die
Gerinnung einsetzte, als trüge sie eine Maske ihrer selbst.
Irgendwie beabsichtigte sie, gleich mit welchen Mitteln, egal was
es ihr abforderte, den Gott des westlichen Patriarchats auf den Grund
des Meeres zu schicken.
Dann sprach Jesus zu seinen Jüngern: »Wenn einer mir
nachfolgen will, so verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf
sich und folge mir nach.«
Amen, dachte Thomas Ockham, während er, gezwängt in die
enge Gummihülle des Taucheranzugs, in die Fluten des Golfs von
Guinea stieg. Nur bestand in diesem Fall das Kreuz aus einem
über neun Meter langen Warpanker, und der ungekennzeichnete Weg
zwischen dem Steuerruder der Valparaíso und Gott gab
die Via Dolorosa ab. Er wußte, daß nun kein Simon von
Cyrene erschien, um ihnen die Last zu erleichtern, keine Veronika, um
ihnen den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Das Dutzend Taucher
des Teams A hatte sich gleichmäßig längs des
Warpankers verteilt: Marbles Rafferty am Ankerkreuz, Charlie Horrocks
an der linken, Thomas an der rechten Flunke, James Schreiender Falke
und Eddie Wheatstone hielten den Ankerschaft gepackt; der Rest
stemmte Ankerstock, Befestigungsring und die ersten fünf
Kettenglieder. Fast sechzig Meter entfernt hielt Joe Spicers Team B,
das den zweiten Warpanker schleppte, wahrscheinlich mit ihnen
Schritt, doch ein dichter Schleier aus Luftblasen und aufgewirbeltem
Schlick verwehrte es Thomas, sich davon zu überzeugen.
Fünfzehn Jahre lang war er nicht unter Wasser gewesen,
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