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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Auffassung, am
Ende der Fahrt müßten wir die Lösung gefunden
haben.«
    Was sich anschloß, war eine Art von offener theologischer
Aussprache – wohl das einzige Mal, vermutete Neil, daß
fast die gesamte Besatzung eines Supertankers sich in eine Diskussion
über ein anderes Thema als Oberliga-Baseballspiele vertiefte.
Die Zeit fürs Abendessen kam und verging. Der Mond stieg ans
Firmament. Beinahe wurde die Crew schizoid, zu einer Gruppe von
Jekyll-und-Hyde-Gestalten, deren Anfälle von Weltschmerz mit
erneutem Leugnen wechselten: ein CIA-Komplott, eine aufgeblasene
Puppe, ein Filmrequisit, das letzte Aufbäumen des Kommunismus;
dann wieder Weltschmerz und weitere Versuche zu leugnen (Fassade
für etwas in Wahrheit völlig Unfaßbares, der vom
Meeresgrund wiederaufgetauchte Koloß von Rhodos, eine
spektakuläre Greenpeace-Aktion, ein Trick der Karpag, um
die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von ihrer neuesten
Umweltschädigung abzulenken).
    Die eigene Reaktion verdutzte Neil. Traurig war er nicht: Warum
hätte er Trauer empfinden sollen? Das Ableben dieses einen
Gottes war wie der Verlust eines Verwandten, den man kaum kannte,
etwa des nebulösen Onkels Ezra, der nie mehr aufgekreuzt war,
nachdem er ihm zum Bar-Mizwa-Fest einen Fünfzig-Dollar-Schein
überreicht hatte. Neil verspürte ein Gefühl der
Befreiung. Er hatte nie viel vom ernsten, bärtigen Gott Abrahams
gehalten, sich auf paradoxe Weise aber stets an die Gebote derselben
Gottheit gebunden gefühlt. Aber jetzt hatte Jahwe nicht mehr
überall seine Augen. Die Gebote hatten keine Gültigkeit
mehr…
    »Wir haben nun alle eine richtig harte Nuß zu knacken,
über die wir noch verdammt lange nachdenken können,
stimmt’s?« meinte van Horne, während er die Länge
des Pingpong-Tischs auf- und abschritt. »Darum werden für
die nächsten vierundzwanzig Stunden alle Routinearbeiten aus dem
Dienstplan gestrichen. Kein Rostentfernen, kein Gepinsel, Leute, und
Ihnen entgeht kein einziger Penny an Heuer.« Sicherlich war es
nie zuvor in der Geschichte der Seefahrt der Fall gewesen, dachte
sich Neil, daß eine solche Bekanntgabe einer Schiffsbesatzung
keinen einzigen Jubelruf entlockte. »Bis zwoundzwanzig Uhr
stehen Ihnen Pater Thomas und Schwester Miriam Ihnen in ihren Kabinen
zur persönlichen seelsorgerischen Beratung zur Verfügung.
Und morgen… Ja, morgen packen wir dann an, was von uns erwartet
wird, klar?« Der Kapitän verschränkte die Arme auf den
Messingknöpfen seines Jacketts. »Also, wie sieht’s
aus? Sind wir Handelsseeleute von echtem Schrot und Korn?
Befördern wir die Fracht ans Ziel? Können Sie mir darauf
mit einem lauten, deutlichen ›Aye‹ antworten?«
    Zögerlich rief ungefähr ein Drittel der Versammelten,
unter ihnen Neil, ein gepreßtes »Aye«.
    »Bringen wir unsere Fracht in den hohen Norden?« fragte
van Horne. »Ich will ein herzhaftes ›Aye‹
hören!«
    Diesmal stimmte über die Hälfte der Versammelten zu.
»Aye.«
    »Wollen wir unseren Schöpfer in seiner fernen arktischen
Grabstätte beisetzen?«
    »Aye«, riefen nun fast alle Anwesenden.
    Ein schrilles, feuchtes Geheul erscholl, gurgelte wie Erbrochenes
aus Leo Zooks Mund. Der Protestant sank auf die Knie, rang aus Furcht
und Elend die Hände, schlotterte am ganzen Leibe. Für Neil
sah er wie jemand aus, der soeben den grauenvoll wachen Moment
unmittelbar nach dem Harakiri durchlebte – wie ein Mensch,
dessen Blick gerade auf die eigenen, dampfenden Eingeweide fiel.
    Pater Thomas eilte zu ihm, half dem erschütterten
Vollmatrosen beim Aufstehen und führte ihn aus der
Offiziersmesse. Es machte Eindruck auf Neil, wieviel Mitleid der
Priester zeigte; trotzdem ahnte er, daß derlei Gesten in
Zukunft nicht hinreichten, um zu gewährleisten, daß sie
diese Fahrt unbeschadet überstanden. Hinter Gottes Tod, glaubte
Neil, wartete ein finsteres Land der Gewalt. Sie fuhren einer
Bestimmung entgegen, die eine Supertankerbesatzung
ausschließlich auf eigene Gefahr ansteuern konnte.
    »Gesamte Besatzung wegtreten!«
     
    Christus feixte. Da war sich Cassie völlig sicher. Wenn sie
Pater Thomas’ Kruzifix genauer betrachtete, erkannte sie auf dem
Gesicht des Gekreuzigten einen Ausdruck satter Genugtuung. Und wieso
auch nicht? Jesus hatte die ganze Zeit hindurch recht gehabt, oder
nicht? Die Welt war wirklich durch einen anthropomorphen Vater
gestaltet worden.
    Cassie stapfte auf dem roten Teppich im Kreis umher, einen
Trampelpfad des Mißmuts in den roten Plüsch.
    Vater, nicht

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