Das Grab des Herkules
die Hand. Zweimal betätigte er den Starthebel, wobei das Gerät ein unangenehmes Sirren von sich gab. Dann beugte er sich vor und setzte den Bohrer an Chases Schulterblatt an. Ehe Nina auch nur ein Wort sagen konnte, drückte er auf den Startknopf.
Chase schrie auf, als der dicke Bohrer in seine Schulter eindrang. Blut spritzte auf den Boden. Selbst Corvus wirkte schockiert.
»Aufhören!«, heulte Nina. »Aufhören, bitte! Ich weiß es nicht, verdammt noch mal, ich habe keinen beschissenen Schimmer! Aber ich werde es bestimmt rausfinden, wenn du nur endlich aufhörst!«
Sophia überlegte kurz, dann deutete sie auf den Tisch. Komosa wirkte enttäuscht, als er die Bohrmaschine weglegte; vom Bohrer tropfte Blut.
Ohne die Folgen zu bedenken, lief Nina zu Chase hinüber. Die Wunde an seinem Rücken hatte einen Durchmesser von etwa einem Zentimeter. Wie tief der Bohrer eingedrungen war, konnte sie nicht erkennen – sie sah nur ein ausgefranstes, blutendes Loch. Chase zitterte; sein Gesicht war schmerzverzerrt.
Nina kniete nieder, presste die flache Hand auf die Wunde und spürte, wie das warme Blut zwischen ihren Fingern hindurch- sickerte. Sie blickte Sophia an. »Um Himmels willen, hilf ihm doch! Ich mache ja, was du willst. Ich kriege schon raus, wie man ins Grab hineingelangt!«
»Versorgen Sie ihn«, befahl Sophia, sich mit Ninas Kapitulation zufriedengebend.
Komosa zerrte Nina von Chase weg. Sie wehrte sich, doch dann hoben zwei andere Männer den nahezu bewusstlosen Chase hoch und brachten ihn hinaus.
»Ich bin froh, dass du dabei bist«, sagte Sophia. Ihre Stimme klang eiskalt und triumphierend. »An die Arbeit – du hast so lange Zeit, den Text zu entschlüsseln, bis wir das Grab entdeckt haben. Gelingt dir das aus irgendwelchen Gründen nicht, wird Eddie mehr als ein paar Verbände brauchen. Denn was Joe ihm dann antut, ist nur schwer wieder herzurichten.« Sie machte Anstalten, den Männern zu folgen, dann blieb sie auf einmal stehen und trat Nina mit der Stiefelspitze fest in die Seite. Nina klappte zusammen. »Und solltest du mich noch einmal als Miststück bezeichnen, schneide ich dir deine Scheißzunge heraus.« Mit dieser Drohung wandte Sophia sich ab und stöckelte auf ihren hohen Absätzen aus der Bibliothek hinaus.
»Stehen Sie auf, Dr. Wilde«, sagte Corvus. »Sie haben zu tun. Ich werde alles in die Wege leiten, damit wir so bald wie möglich nach Algerien reisen können.« Er wandte sich ebenfalls zum Gehen, hielt an der Tür aber noch einmal kurz inne. »Und waschen Sie sich bitte. Ich möchte nicht, dass Sie die Pergamente beschmutzen.«
Grußlos ging er hinaus, und Nina blickte auf ihre blutigen Hände nieder.
21
Algerien
D ie drei Helikopter donnerten über die Wüste. Meilenweit war nichts anderes zu sehen als karge, im Sonnenlicht flirrende Sanddünen. Die unbarmherzig brennende Sonne heizte die Außentemperatur auf gut und gerne vierzig Grad auf.
Die Kabine des Helikopters an der Spitze – ein großer Sikorsky-Transporter vom Typ S-92 – war klimatisiert, doch weder Nina noch Chase wussten das zu schätzen. Sie waren erst seit zwei Tagen wiedervereint, und es sah alles danach aus, als wäre ihnen nicht viel mehr Zeit miteinander vergönnt: Nina war der Entschlüsselung der letzten Geheimnisse des Hermokrates -Dialogs nämlich kein bisschen näher gekommen.
Und die Zeit lief ihr davon.
»Noch zehn Minuten«, verkündete Sophia. Sie und Komosa saßen hinten in der Kabine bei Chase und Nina; Corvus hatte auf dem Sitz des Kopiloten Platz genommen. »Ich hoffe für euch alle beide, dass du bald eine Eingebung hast, Nina.«
»Die Umstände sind nicht gerade ideal«, klagte Nina. Sie trug Handschellen, konnte aber mit den Pergamenten arbeiten. Chase waren die Hände auf dem Rücken fixiert. Seine Schulterverletzung war zwar behandelt und verbunden worden, doch er hatte immer noch starke Schmerzen. Aus einem sadistischen Impuls heraus hatte Sophia ihm die Lederjacke zurückgegeben – wegen der Handschellen konnte er sie jedoch nicht ausziehen, sodass er trotz des kühlen Luftstroms der Klimaanlage schwitzte.
Derselbe Luftstrom spielte zu Ninas Verärgerung mit den Seiten des Textes. Dies vermochte sie allerdings nicht abzulenken, denn sie war konzentriert bei der Sache.
Sie war sich sicher, dass in Platos Text ein Hinweis versteckt sein musste, ein kryptischer linguistischer Schlüssel, der das Rätsel um das Grab des Herkules lösen würde. Bei jeder neuen Lektüre des
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