Das Grab des Herkules
Textes schien sie diesem Schlüssel einen quälend kleinen Schritt näher zu kommen – jedoch nicht nah genug, um das Schloss damit aufzusperren. Sie runzelte die Stirn.
»Macht’s keinen Spaß?«, fragte Chase. Die Schmerzen machten ihn wesentlich umgänglicher als sonst.
Nina schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es gibt da einen Code, mit dem man die relevanten Worte auffinden kann, die den Zugang zum Grab betreffen – zum Beispiel wenn das dritte Wort, sechste Zeile, erste Seite ›aufschließen‹ heißt, dann lautet das siebte Wort in der zwölften Zeile ›Schlüssel‹, und so weiter. Ich meine, da steht explizit drin, dass unter Worten andere Worte versteckt sind! Aber ich finde einfach keinen Ansatz zur Entschlüsselung. Es muss einen Ausgangspunkt für die Decodierung geben – ohne diesen könnten selbst die versiertesten Leser das Geheimnis nicht lüften. Aber … ich finde nichts.«
»Sonst gibt es nichts auf den Pergamenten?«, fragte Chase. »Keine verborgenen Botschaften oder dergleichen?«
Sophia schüttelte stellvertretend für Nina den Kopf. »Unsichtbare Tinte war zu Platos Zeiten das Nonplusultra der Verschlüsselung, also gibt es sonst nichts zu entdecken. Die Hinweise müssen im Text enthalten sein.« Sie sah auf die Uhr und dann Nina an. »Dir bleiben noch genau sechs Minuten, es herauszufinden, meine Liebe.«
Nina konzentrierte sich wieder auf die Pergamente, auf die alte, fleckige Tinte, die ihr beim Überfliegen der Zeilen vor den Augen verschwamm.
Sie gab sich alle Mühe, doch sie wusste bereits, dass sie nichts Neues entdecken würde. Wenn es einen Schlüssel zu dem Geheimnis um das Herkules-Grab gab, so war er jedenfalls nicht im Hermokrates -Text zu finden. Entweder er war in einer anderen Quelle enthalten, die sich nicht in ihrem Besitz befand, dann hatte sie keine Möglichkeit, die Lösung zu finden … oder aber es gab überhaupt keine Chiffrierung.
»Dieses Gesicht kenne ich«, sagte Chase in etwas zuversichtlicherem Ton.
Nina schaute hoch. »Hmm?«
»Das ist dein Kreuzworträtselgesicht! So siehst du aus, wenn du gerade eine harte Nuss geknackt hast. Was ist dir eingefallen?«
»Ja, was hast du entdeckt?«, schaltete Sophia sich mit neu erwachtem Interesse ein.
Auch Corvus wandte den Kopf und musterte Nina forschend.
»Ich … ich bin mir noch nicht sicher. Aber ich glaube, ich bin das Problem falsch angegangen. Bei dem Hinweis auf die in den Worten versteckten Worte bin ich davon ausgegangen, dass er sich auf eine Chiffrierung bezieht – auf spezifische Einzelworte, die zusammengenommen eine Botschaft ergeben.« Sie blätterte zur ersten Seite zurück. »Aber was ist, wenn das gar nicht stimmt? Der Hinweis auf die Landkarte war ziemlich eindeutig – vielleicht verhält es sich in diesem Fall auch so. ›Den Worten unseres Freundes Hermokrates liegen verborgene Worte zugrunde‹ , heißt es hier. Und dann ist da noch von ›rötendem Glas‹ die Rede, von rotem Glas, Bunt glas …«
Sie schaute an die Kabinendecke. Über den Vordersitzen waren Fenster in die Decke eingelassen, damit der Pilot den Rotor sehen konnte. Das Sonnenschutzglas war grün getönt. Nina beugte sich vor und hielt das Pergament so ins Licht, dass der Sonnenschein darauf fiel. Die Seite wirkte auf einmal smaragdgrün, die schmutzig braune Tinte dunkelbraun.
Nina schoss vom Sitz hoch. »Ich hab’s! Ich hab’s!«, rief sie aufgeregt.
»Was hast du?«, fragte Chase verwirrt.
»Ich brauche etwas Rotes , rotes Plastik oder getöntes Glas.« Nina blickte sich in der Kabine um. »Mach schon!«, fauchte sie Sophia an. »Mach dich nützlich, such was Passendes!«
Sophia runzelte die Stirn, tat aber wie geheißen. »Joe, geben Sie mir mal meine Tasche. Die blaue«, forderte sie Komosa auf.
Der langte hinter ihren Sitz, hob eine Reisetasche hoch und reichte sie ihr.
Sophia wühlte hektisch darin herum. »Hier«, sagte sie und reichte Nina einen Plastikhefter. »Tut es das?«
»Perfekt«, sagte Nina und riss ihr den Hefter aus der Hand. Darin war eine englische Übersetzung des Hermokrates abgeheftet, die sie jedoch herausnahm. Sie hatte es auf den Hefter aus transparentem rotem Plastik abgesehen.
Sie legte das erste Pergament in den Hefter, hielt ihn vors Fenster und versuchte, so viel direkte Sonneneinstrahlung wie möglich damit einzufangen. Der rötlich braune Text war unter dem Plastik nur schemenhaft zu erkennen, da der rote Filter die Farbe weitgehend absorbierte.
Plötzlich aber
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