Das Grab des Salomon
Aufwärmrunde für seinen am nächsten Tag vorgesehenen Besuch bei Elizabeths Arbeitgeber, stand Nathan zwischen ein und drei Uhr eine großzügige Pause zur Verfügung. Hayden gab vor, noch einige Dinge zusammenpacken zu müssen, und schlug vor, dass Nathan einstweilen ein Nickerchen halten sollte.
Es hatte wieder zu regnen begonnen, was Nathan jedoch nicht davon abhielt, stattdessen einen Spaziergang zu unternehmen. Angesichts des Wetters blieben die meisten Menschen zu Hause, weshalb ihm entlang der Greenwood Street kein einziges Auto begegnete. Er hätte ebenso durch den kurzen Waldstreifen gehen können, der die Kirche vom Friedhof trennte, doch nach dem Vorfall des vergangenen Tages wollte er nicht allein im Wald gesehen werden. Das wäre seinem bereits angekratzten Image wenig zuträglich gewesen.
Tarrettis Chevy Blazer war weit und breit nicht zu sehen, was Nathan als gut empfand. Je weniger Fragen ihm von Tarretti oder sonst jemandem gestellt wurden, desto besser. Der große, leicht schimmlig riechende Regenschirm, den Nathan im hinteren Schrank gefunden hatte, und der lange, schwarze Regenmantel, den ihm seine Eltern vor zwei Jahren nach Florida geschickt hatten, schützten ihn ausreichend gegen den Regen. Wahrscheinlich würde er den Regenmantel in diesem Klima künftig öfter tragen. Er betrat den Friedhof und folgte dabei derselben Route wie letzte Woche.
Als er die beiden Engelsstatuen erblickte, blieb er nicht stehen.
Einfach weitergehen , dachte er bei sich. Die Erde war aufgeweicht, in der feuchten Luft lag der Geruch der ersten Blätter, die sich in Laub verwandelten. Kaltes Wasser drang in seine Schuhe, als er in eine Pfütze trat. Sein Blick haftete an den Gesichtern der Statuen. Schließlich blieb er stehen und schaute zu ihren fein geschnittenen, aber leblosen Züge auf.
Regen troff von den Antlitzen aus Stein. Manche Einzelheiten hatten die Witterung und die Zeit abgeschliffen. Ihre Schwingen ragten von den Rücken empor und berührten sich an den Spitzen, verschmolzen ineinander zu einem gemeinsamen Gebilde. Nathan vermutete, dass dies bewusst so gestaltet worden war, damit keine der beiden Statuen zu einer Seite kippen konnte.
Dieser Anblick hatte sich ihm am Vortag und in dem Traum in seiner ersten Nacht hier geboten. War das eine Vorahnung gewesen, oder besaß er eine so ausgeprägte Vorstellungskraft, dass sie die Wettervorhersagen mit seinem Plan assoziiert hatte, heute hierher zu kommen?
So sehr er versuchte, eine vernünftige Erklärung zu finden, nichts fühlte sich nach der Wahrheit an. Er sollte hierher kommen, wurde hierher geschickt . Es war die einzige Begründung, die sich richtig anhörte. Aber von wem war er geschickt worden? Von Gott? Nachdenklich schüttelte er den Kopf und betrachtete die Grabstelle.
Die Grabplatte war breit, rechteckig und stützte die Statuen. An der Inschrift hatte wie an den Gesichtern der Engel der Zahn der Zeit genagt.
John Salomon stand darauf. 1852 – 1909 .
Als Nathan den Namen las, durchlief ihn ein elektrisierender Ruck. Ihn beschlich das Gefühl, dass irgendetwas fehlte, ein Detail, das in seinem Gehirn schlummerte, sich aber nur allmählich löste.
Salomon . Ein biblischer Name. Erfolglos versuchte Nathan, sich an jüdische Familien dieses Namens in der Stadt zu erinnern. Was nichts bedeuten musste – immerhin war das Grab sehr alt. Abermals betrachtete er die Engel. Die offenkundige Verbindung zwischen ihrer Pose und den Namen auf der Grabplatte war einfach herzustellen. In Salomons Tempel, in dem die Bundeslade verwahrt worden war, hatten zwei goldene Engel auf dem Deckel Wache gehalten und die Tafeln mit den zehn Geboten beschützt. Allerdings schien die Gestaltung mehr als eine künstlerische Interpretation des Namens des Verstorbenen zu sein. Was vielleicht an dem fehlenden Detail lag, das sich ihm einfach nicht offenbaren wollte.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Nathan, ob er bloß allmählich den Verstand verlor.
Er ging um den Sockel herum und hielt Ausschau nach weiteren Namen, einer Gedenktafel oder dergleichen, die mehr als einen Namen und Daten enthielt. Nichts. Unter dem Schuh spürte er teilweise unter Erde und Laub vergrabenen Beton. Der Sockel war massiv gefertigt, vor allem zur Vorderseite hin.
Also kein schlichtes Grab, sondern eine Gruft?
Er schritt ein weiteres Mal um die Statuen herum, wobei ihm vereinzelt Regen vom Schirm auf den Rücken tropfte. Kein Anzeichen eines Zugangs. Falls es einen gab, lag er, dem
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