Das Grab des Salomon
Zerbrechlichkeit. Er hatte noch deutlich vor Augen, wie Gott letzten Endes eingeschritten war, um ihren Worten unwiderlegbaren Nachdruck zu verleihen, indem er Tarretti in der Bar seine Vision beschert hatte.
Und nun waren da Pastor Dinnecks Träume.
Es konnte keinen Zweifel geben. Der Umstand, dass Dinneck obendrein einen Geistlichen verkörperte, unterstrich die Dringlichkeit ihrer Lage: Zum einen war Vincent seines Wissens noch kerngesund, zum anderen schien es nicht notwendig, einen Geistlichen als Nachfolger auszuwählen, wenn der Schatz nicht an einen anderen Ort befördert werden musste.
Tarretti berichtete, wie er mit der alten Frau nach Massachusetts geflogen war und sich für die offene Stelle eines neuen Friedhofswärters beworben hatte. Ruth hatte dem verantwortlichen Stadtrat ihre gesundheitlichen Probleme bereits vor ihrem Aufbruch nach Kalifornien mitgeteilt und ihn gebeten, den Posten so bald wie möglich auszuschreiben. Tarrettis Bewerbung kam zum perfekten Zeitpunkt und wurde mit einer direkten Empfehlung von Ruth Lieberman unterstützt. Sie gab Vincent als einen entfernten und zuverlässigen Vetter aus. Der Stadtrat hatte die Angelegenheit nur allzu gern rasch zu den Akten gelegt, außerdem hatte es ohnehin noch keine anderen Bewerber für die Stelle gegeben. Seine Anstellung wurde ohne jegliche Einwände bei der nächsten Stadtratssitzung beschlossen.
In den darauf folgenden Wochen hatten Lieberman und er zusammen in diesem Haus gewohnt. Ähnlich wie Nathan zu Beginn in der Kirche hatte Tarretti die Couch in Besitz genommen. Ruth hatte ihm die Kassette und ihren Inhalt übergeben. Drei Tage, bevor sie aufgrund ihres sich verschlechternden Zustands das Krankenhaus aufsuchen musste, war sie mit ihm zum Friedhof in der Greenwood Street gefahren. Es war nach Mitternacht gewesen, als sie die Gruft öffneten und sie ihm offenbarte, was sich darin befand.
Nathan Dinneck schien insbesondere dieser Teil der Geschichte zu beeindrucken, wenngleich der Friedhofswärter unweigerlich das höhnische Lächeln bemerkte, das seine Freundin zu verbergen versuchte.
Vincent stand auf und streckte sich. »Ich muss Ihnen – wohl Ihnen beiden – etwas Wichtiges zeigen. Ich bin gleich zurück.« Damit verließ er die Küche und verschwand um die Ecke in seinem Schlafzimmer. Er schaltete das Licht bewusst nicht ein, da er mit Fortschreiten der Nacht zunehmend sicherer wurde, dass jemand das Haus beobachtete. Erstmals eingesetzt hatte das Gefühl bereits um den Zeitpunkt, als Hayden die Stadt verließ. Anfangs hatte er es Paranoia zugeschrieben – und es trotzdem in seinem Tagebuch notiert, Eintrag 819 . Doch seit der Nacht, in der Dinneck angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, dass Hayden verschwunden war, hielt er es nicht mehr für Einbildung.
Nachdem er Johnsons Hundebett entfernt hatte, kniete er sich neben das Bett und zwängte einen Finger in die leichte Ausnehmung in den Brettern, die vermutlich ein Astloch darstellte. Kurz zögerte er.
Neben dem Schatz in John Salomons Grab war diese Kassette sein bestgehütetes Geheimnis. Es hervorzuholen und andere Augen den Inhalt der Kassette sehen zu lassen, schien ein absolut endgültiger Akt des Übergangs.
Er entfernte das Brett, dann jedoch faltete er die Hände vor der Brust.
Gott, bitte führe meine Hände und leite meinen Verstand. Alles, was geschieht, alle Zeichen scheinen richtig. Aber wie kann ich nach so vielen, vielen Jahren sicher sein? Was, wenn ich in die Küche zurückkehre und sie verschwunden sind? Was, wenn sie in Wahrheit der Feind sind?
Keine Antwort. Natürlich nicht. Er hatte seine Schlüsse bereits gezogen – es konnte kein Irrtum vorliegen. Vermutlich zögerte er nur deshalb, weil er seine eigene Rolle in den bevorstehenden Geschehnissen nicht kannte – sofern er überhaupt eine spielen würde. Wenn es ihm gelänge, diese Leute zu überzeugen, würden sie den Schatz wahrscheinlich an sich nehmen und die Stadt verlassen. Vincent könnte dann selbst weiterziehen. Vielleicht würde er nach all den Jahren wieder zur Schule gehen, den Abschluss machen und in irgendeiner neuen Form in den Dienst Gottes treten, die nicht so viel Abgeschiedenheit erforderte.
Die Aussicht darauf erfüllte ihn mit Freude und gestaltete es einfacher, die Kassette aus ihrem Versteck zu heben. Andererseits sollte er nicht so ungeduldig darauf harren, seine Dienstzeit zu beenden. Dadurch wurde er nur anfällig für Fehler, und gerade jetzt musste er vorsichtig
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