Das Grab im Moor
in dein Zimmer gehen?«
Sie sah ihn eindringlich an und Karl nickte.
»Klar.«
Ohne ihren Mantel auszuziehen, huschte Sara die Treppe hoch. In Karls Zimmer ließ sie sich auf sein Bett sinken.
»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Sie beugte sich vor und schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich glaube, ich werde langsam wirklich verrückt. Ich habe die ganze Nacht völlig wahnsinnige Sachen geträumt . . .«
Karl wusste nicht recht, was er tun sollte. Vorsichtig setzte er sich neben Sara aufs Bett und legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter.
»Mach dir keine Sorgen, Sara. Es sind doch nur Träume. Das hat nichts zu bedeuten.«
Sie hob den Blick und sah ihm in die Augen. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Bist du dir sicher? Ich bin es nämlich nicht.«
Sie stand auf und fing an, ihren langen, dicken Mantel aufzuknöpfen.
»Du wirst ganz sicher nicht verrückt.«
Karl blickte zu Boden, in der Hoffnung, dass ihm jeden Moment irgendetwas Schlaues einfallen würde, das er ihr sagen konnte.
»Es ist nur dieses Stück, mit dem etwas nicht stimmt . . .«
Sara legte den Mantel auf das Bett und Karl schaute hoch. Sie stand in Lillys Kostüm vor ihm.
Entgeistert starrte er sie an.
»Aber . . .?! Ich dachte, du wolltest es zurückbringen?«
Langsam wurde er wirklich wütend. Was hatte sie denn vor? Sie hatte doch versprochen, aus dem Stück auszusteigen?
»Ich weiß«, zischte Sara zornig als Antwort. »Glaub was du willst, aber das habe ich auch getan!«
Und dann erzählte sie ihm, wie sie ins Theater gegangen war und jedes Kleidungsstück und den ganzen Text zurückgebracht hatte. Sie hatte die Kleider in den Kostümfundus gehängt und eine Nachricht für Sonja Svärd und die anderen hinterlegt, in der sie ihnen mitgeteilt hatte, dass sie nicht weiter mitspielen würde.
»Aber woher kommen dann die Sachen?«, fragte Karl.
»Ich weiß es nicht«, sagte Sara und fing wieder an zu weinen. »Als ich heute Morgen wach geworden bin, hatte ich sie an. Ich sage doch, dass ich langsam verrückt werde.«
Sie berichtete weiter, wie sie schon früh aufgewacht war, weil es ihr im Bett so warm vorkam. Und wie sie in Panik geraten war, als ihr bewusst wurde, dass sie das Bühnenkostüm anhatte. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich ihren Mantel übergeworfen und war direkt zu Karl gerannt.
»Kein anderer würde mir glauben«, sagte sie und seufzte. »Und es ist ja nicht nur die Sache mit den Kleidern. Auf dem Weg zu dir konnte ich noch ganz leichte Fußabdrücke im Schnee erkennen, die von unserem Haus wegführten. Ich glaube, ich bin heute Nacht wieder auf dem Cholerafriedhof gewesen.«
»Sara! Karl! Ich habe heiße Schokolade für euch gekocht«, rief Großvater von unten aus der Küche.
Karl und Sara saßen sich am Küchentisch gegenüber, jeder mit einer Tasse Kakao. Großvater war nach draußen verschwunden, um die Einfahrt freizuschippen. Sara hatte sich einen Pulli und eine Jeans von Karl geliehen, um den alten Rock und die Bluse loszuwerden. Sie schien sich etwas beruhigt zu haben, seit sie das Kostüm ausgezogen hatte.
Wieder suchte Karl nach den richtigen Worten. Natürlich war das, was geschehen war, seltsam, aber er konnte ganz einfach nicht glauben, dass Sara verrückt wurde. Es musste eine andere Erklärung geben.
»Aber was ist mit den Albträumen?«, fragte er. »Wovon handeln sie? Vielleicht bedeuten sie doch etwas?«
Sara wirkte auf einmal wie versteinert. Es war, als wollte sie darüber reden und zugleich auch wieder nicht.
Karl wusste, wie das war. Wenn man über gewisse Dinge ganz einfach nicht sprach, konnte man so tun, als gäbe es sie gar nicht oder als wären sie nie passiert. Aber wenn man jemandem davon erzählte, fühlte sich alles plötzlich ganz real an. Im Guten wie im Schlechten.
Sara schwieg einen Augenblick, dann fing sie schließlich doch an zu berichten. Nachdenklich, so als würde sie alles selbst nicht ganz verstehen und als wäre es schon deshalb schwer zu beschreiben.
»Die Träume sind wie kurze Szenen: ein großer, grauer Baum ohne Laub, der aussieht wie die alte Eiche unten im Hafen, nur ohne die Häuser, die heute dort stehen. Ein Seil knarrt, oder besser gesagt ein Strick, an dem ein toter Mann hängt. Er ist ganz blau, aber seine Lippen bewegen sich, als wolle er mir etwas sagen. Ich versuche wegzulaufen, aber da stehe ich plötzlich vor einem Grab und aus der Tiefe klingt das Geräusch von Spatenstichen.«
Sara verstummte und
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