Das Grab im Moor
klar wurde, dass sich nur das Licht des Himmels in der Wasseroberfläche spiegelte.
Engla Forins Häuschen lag wie verlassen vor ihnen, aber die Tür war nur angelehnt. Auch drinnen im Haus war alles still. Kolumbus schlief in der Küche. Das einzige Geräusch, das sie hörten, war das Ticken einer einsamen Küchenuhr.
Über Englas Zimmer hing der süßliche Duft der Blumensträuße, die ihr geschickt worden waren, seit man sie aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Alles war dunkel, nur an ihrem Bett leuchtete eine kleine Lampe. Englas Brust hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Sie hatte die Augen geöffnet, aber trotzdem sah sie aus, als würde sie schlafen. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass Karl und Sara ihr Zimmer betreten hatten.
Karl fand, dass Engla dieses Mal noch kleiner aussah. Ihre Wangen waren fahl und eingefallen. Der gelähmte Mundwinkel hing müde und schlaff nach unten.
»Die können sie doch hier nicht einfach so alleine lassen?«, platzte Sara entsetzt heraus.
Karl setzte sich neben Engla auf die Bettkante. Er nahm ihre Hand und versuchte, zu ihr durchzudringen.
»Engla . . . ich bin es, Karl . . . wir müssen mit dir reden. Über das Theaterstück. Du musst uns erzählen . . .«
Aber Engla starrte nur weiter mit leeren Augen ins Nichts. Sie sah weder froh noch traurig aus. Nur abwesend.
Sara setzte sich auf die andere Seite des Bettes.
»Hallo, Engla. Kennst du mich noch? Ich bin’s, Sara.«
Ein Schimmer entzündete sich in Englas Blick und eine Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. Langsam drehte sie den Kopf und sah Sara an.
»Lilly«, zischte sie.
Im selben Augenblick wurde unten die Haustüre zugeschlagen. Karl und Sara starrten sich erschrocken an.
»Ich kann nichts dafür, dass sie nicht mehr länger die Lilly spielen will«, hörten sie Sonja Svärds Stimme. »Sie hat uns keinen Grund genannt. Wir können das Ganze nur noch absagen.«
Sara und Karl wechselten einen Blick. Sonja sprach von Sara und sie klang so verärgert, als würde sie mit jemandem streiten.
»Ja, das kann schon sein«, antwortete Doktor Ekwall. »Aber nachdem sie uns noch immer nicht gezeigt hat, wo es ist, müssen wir jetzt eben Engla ein bisschen unter Druck setzen. Sie ist die Einzige, die es weiß. Und vielleicht bleibt ihr nicht mehr viel Zeit.«
»Komisch, dass es heute so schwer war, den richtigen Weg zu finden«, sagte Sonja Svärd unglücklich. »Ach! Ich will hier nicht sein. Du weißt, was ich vom Moor halte.«
»Herrgott noch mal!«, fauchte Doktor Ekwall. »Kannst du dich bitte mal zusammenreißen? Es ist immerhin vierzig Jahre her, dass sie verschwunden ist.«
»Das hilft mir jetzt auch nicht weiter.«
Karl hörte, wie Sonja Svärds Stimme zitterte, und er begriff, worüber die beiden sprachen. Über das Mädchen, das im Moor verschwunden war. Sonjas Kinderfreundin Annie.
Langsam wurde die Lage brenzlig, sie mussten sich verstecken. Karl sah sich im Zimmer um und entdeckte eine Tür, die vermutlich in eine Abstellkammer führte.
Engla hielt Sara am Handgelenk fest. Ihr Mund bewegte sich, aber die Worte kamen nur mühsam hervor.
»Was denn?«, flüsterte Sara. »Was willst du mir sagen?«
Karl huschte zu dem Kämmerchen. Doktor Ekwalls und Sonja Svärds Schritte waren schon auf der Treppe.
»Beeil dich doch«, flüsterte Karl ungeduldig. »Sie dürfen uns hier nicht finden.«
Er öffnete die Tür und verschwand in den kleinen, dunklen Raum. Sara beugte sich über Engla.
»Du musst . . . es wagen . . . Du brauchst es . . . im Stück. Du weißt es doch . . . in dir drinnen. Hör auf Lilly.«
Engla sank in die Kissen zurück und Sara schlüpfte zu Karl in die Kleiderkammer. Im selben Augenblick traten Doktor Ekwall und Sonja Svärd in den Raum.
In dem Kämmerchen roch es nach Mottenpulver. Es war ziemlich eng und Karl wagte kaum, sich zu rühren.
»Was hat sie gesagt?«, wisperte er. »Hast du was verstanden?«
»Dass ich es wagen muss«, flüsterte Sara zurück. »Dass es etwas gibt, das ich brauche. Und dass ich auf Lilly hören soll. Was meint sie nur damit?«
Das Licht, das durch den Türspalt fiel, verriet ihnen, dass jemand die Deckenlampe in Englas Schlafzimmer angemacht hatte. Da traute Karl sich auch, die Taschenlampe anzuknipsen, die seine Mama ihm geschenkt hatte. Vorsichtig sahen sie sich in der kleinen Kammer um.
An einer Wand standen Regale, in denen stapelweise vergilbte Zeitungen neben Hutschachteln und alten Vasen
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