Das Grab im Moor
lagerten. Karl richtete den Lichtstrahl auf die andere Wand. Und schnappte nach Luft.
Dort hingen jede Menge Kohlezeichnungen – alle mit unterschiedlichen, schrecklichen Motiven. Ein schwarzer, kahler Baum, dessen Zweige sich nach dem Betrachter streckten, ein toter Mann, der an einem Strick hing.
Mehrere der Zeichnungen zeigten ein offenes Grab vor einem Grabstein. Verblüfft ließ Karl den Lichtschein über die Bilder wandern. Das Grab, der Baum und der Mann am Strick. Er starrte eine der Zeichnungen des Friedhofs an und glaubte plötzlich, Spatenstiche zu hören.
Er drehte sich zu Sara um. Auch ihr stand der Mund offen.
»Das ist ja mein Traum«, flüsterte sie. »Das ist exakt mein Albtraum!«
Sie nahm Karl die Taschenlampe aus der Hand und fing an, die Zeichnungen einzeln nacheinander durchzusehen. Auch Engla hatte die Lilly gespielt. Auch sie war zum Cholerafriedhof gegangen und hatte dieselben Albträume gehabt wie Sara! Aber was hatte das alles zu bedeuten? Wusste Engla etwas, das sie nicht wussten?
Plötzlich blieb Saras Blick an einem der Bilder hängen. Es zeigte eine Art Halsband.
»Das Amulett«, sagte Sara atemlos. »Es ist dasselbe, das ich im Traum getragen habe. Und der Baum, das ist die alte Eiche am Hafen, wo Albert der Tischler sich erhängt hat. Und er wurde an einem unbekannten Ort begraben . . .«
Sie richtete die Taschenlampe auf eine der Zeichnungen des offenen Grabes. Der Text auf dem Stein war deutlich zu erkennen.
Kapitän Schwarzholz – Memento Mori.
»Ich glaube, jetzt wird mir einiges klar«, murmelte Sara. »Ich weiß, was wir tun müssen.«
»Das klappt nicht«, hörten sie Sonja Svärd sagen. »Sie kann ja nicht sprechen. Lass uns gehen.«
»Na gut«, sagte Doktor Ekwall. »Solange sie auch sonst mit niemandem redet, sind wir immer noch einen Schritt voraus.«
Karl und Sara warteten noch eine gefühlte Ewigkeit, ehe sie sich trauten, aus der Abstellkammer zu kommen. Ekwall und Sonja Svärd hatten das Haus verlassen und Engla schlief tief und fest. Vermutlich hatte er ihr eine Spritze gegeben.
»Das Amulett gibt es wirklich . . .«, erklärte Sara, als sie die Treppe hinuntergingen. »Und wir müssen es finden.«
»Also das ist es, was Doktor Ekwall sucht. Aber wo kann es sein?«
»Engla hat gesagt, ich soll auf Lilly hören. Ich glaube, Lillys Rolle ist eine Art Schlüssel zu dem Ganzen.«
»Wie das denn?«
»Sie führt uns zum Amulett . . . Lilly versucht mir zu sagen, wo es versteckt ist.«
Kurz und sachlich erklärte Sara, wo sie glaubte, das Amulett finden zu können, und was sie tun mussten, um es zu bekommen. Karl war entsetzt.
»Willst du mich veralbern?«
»Nein«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl. Sonst werde ich Lilly nie mehr los.«
Sie verschwand in einem Schuppen neben Englas Häuschen und kam kurz darauf mit zwei Spaten zurück. Mit ernstem Gesicht reichte sie Karl einen der beiden.
»Jetzt komm schon. Es ist bestimmt nicht so gefährlich, wie es klingt.«
Kapitel 19
Langsam machten sie sich auf den Weg zurück durch das Moor. Karl hoffte aus tiefstem Herzen, dass sie sich dieses Mal nicht zwischen den seltsamen Gewächsen im Sumpf verirren würden. Obwohl es andererseits vielleicht sogar angenehmer war, sich im Moor zu verirren, als das zu tun, was Sara vorhatte.
Karl drehte sich noch einmal nach Englas Häuschen um. Der Klarsee schimmerte weiß und geheimnisvoll. Über dem See tanzte der Nebel. Es sah wunderschön aus, wie auf einer Weihnachtskarte, – und dabei steckten sie mitten in einem Albtraum.
Was wollte er hier eigentlich? Warum war er nicht zu Hause bei seinem Großvater und saß gemütlich vor dem Fernseher? Er seufzte. Sara hatte ihm alles mehrfach erklärt, aber er konnte es einfach nicht glauben. Sie wollte tatsächlich Kapitän Schwarzholz' Grab aufbuddeln!
»Das Grab in meinem Traum ist dasselbe wie auf dem Cholerafriedhof. Du kennst doch die Geschichte von Albert dem Tischler und seinem Weihnachtsfenster? Albert hat seine Schnitzereien aus Schwarzeiche angefertigt. Er hatte das Amulett, Lillys Amulett – und er muss es mit ins Grab genommen haben. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Albert der Tischler in Kapitän Schwarzholz' Grab liegt.«
Karl schauderte.
»Aber es heißt doch immer, dass man Gräber nicht anrühren darf. Wegen der Totenruhe und so . . .«
Über dem Cholerafriedhof waberte der Nebel, genau wie über dem Klarsee. Nebel, der aufsteigt, wenn der Boden
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