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Das Grab - Roman

Das Grab - Roman

Titel: Das Grab - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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können, doch er konnte sie durch die Glastür des Wartezimmers sehen. Sie stand neben dem Pult der Sprechstundenhilfe und redete mit Thelma. Neben Vicki stand eine fettleibige Frau, deren Frisur wie ein grauer Helm wirkte.
    Vicki war wunderschön. Ihr blondes Haar leuchtete golden, ihre Haut war leicht gebräunt, ihre Augen klar und blau. Ihr Arztkittel stand offen und enthüllte ihre blaue Seidenbluse.
    Melvins Herz schlug schneller.
    Sie warf einen Blick zu ihm herüber, dann wandte sie sich wieder Thelma zu, sagte noch etwas und ging wieder. Die dicke Frau blieb noch eine Weile vor dem Pult stehen. Dann öffnete sie die Tür, ging durch das Wartezimmer, ohne Melvin eines Blickes zu würdigen, und verließ die Praxis.
    Thelma stand von ihrem Schreibtisch auf. Sie ging um das Pult herum und wandte sich zur Tür.
    Alles klar.
    Sie öffnete die Tür. »Dr. Chandler kann Sie jetzt empfangen. « Sie hielt Melvin die Tür auf und ging ihm dann den Korridor entlang voran zu dem Zimmer, in dem Vicki letzte Woche seine Hand behandelt hatte. »Sie kommt sofort«, sagte Thelma und ließ ihn allein.
    Melvin setzte sich auf die mit Papier bedeckte Behandlungsliege. Er tat einen tiefen, bebenden Atemzug und ließ die Luft ganz langsam wieder entweichen. Sein Herz klopfte. Er fühlte Schweißtropfen von seinen Achseln rinnen.
    Dann hörte er Schritte. Nicht das Klackern hoher Absätze, wie Thelma sie trug – das Flüstern und Quietschen von Gummisohlen.
    Vicki betrat den Raum. Ihr weißer Arztkittel war zugeknöpft, und sie hatte auch den Kragenknopf ihrer Bluse geschlossen.
    Alles meinetwegen, dachte er. Aber das wird sich bald ändern. Eines Tages wird sie genauso scharf auf mich sein wie Patricia. Ich werde sie kaum noch in irgendwelche Kleider hineinbekommen .
    Er stellte sie sich nackt vor. Doch in ihren Rumpf war das Gesicht von Ram-Chotep geschnitten.
    Nein, so wird es nicht ablaufen. Ich werde Vicki das nicht antun müssen. Sie wird leben und mich trotzdem begehren.
    »Guten Morgen, Melvin«, sagte sie. Obwohl sie nicht lächelte, sah sie auch nicht gerade aus, als wäre sie todunglücklich. »Hast du wieder Ärger mit deiner Hand?«
    »Sie tut immer noch weh.«
    »Sollen wir sie uns mal ansehen?«
    »Würde ich sagen.« Letzte Nacht nach dem Bad hatte Patricia ihm einen frischen Verband angelegt. Die Wunde war fast verheilt. Doch die Hand war sein Vorwand, um hierherzukommen, und er wollte, dass Vicki ihn berührte und den Verband abnahm.
    Er streckte ihr die Hand hin.
    Sie kam näher und blieb stehen, als ihre Schenkel fast seine Knie berührten. Mit einer Hand hielt sie seine bandagierte Rechte fest. Mit der anderen zog sie das Klebeband ab. Sie roch frisch und sauber, ein bisschen nach Zitrone.
    »Ich hab gehört, was Dr. Gaines zugestoßen ist«, sagte er. Sie erstarrte, und der Griff um seine Hand wurde fester. »Thelma sagt, sie haben seine Leiche nicht gefunden.«
    »Nein, das haben sie nicht.«
    »Es tut mir wirklich leid für dich. Ich nehme an, er war ein guter Freund.«
    Vicki nickte. Sie schien abwesend, in Gedanken versunken.
    »Dann führst du die Praxis jetzt ganz allein?«
    »Vorläufig«, sagte sie.
    »Das muss eine Menge Arbeit sein. Vielleicht solltest du jemanden einstellen, der dir hilft.«
    »Das werde ich wohl müssen.« Sie wickelte das letzte Stück der Bandage ab und zog den Mullstreifen von der Wunde. Sie drehte seine Hand hin und her und begutachtete die Bissspuren auf beiden Seiten. »Sieht schon viel besser aus«, sagte sie.
    »Ja. Tut aber immer noch weh.«
    »Das war zu erwarten«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Ich werde es neu verbinden, dann kannst du dich wieder auf den Weg machen.«
    »Sieht fast so aus, als wolltest du mich loswerden.«
    »Ich bin sehr beschäftigt.« Sie trat an einen Schrank, zog eine flache Metallschublade auf und nahm eine Mullbinde und eine Rolle Klebeband heraus. Oben auf dem Schrank fand sie eine Schere. Sie fing an, seine Hand zu bandagieren. Sie arbeitete schnell – und nicht besonders behutsam.
    »Ist was nicht in Ordnung?«, fragte Melvin.
    »Alles bestens.«
    »Bist du sauer auf mich?«
    »Sauer? Das ist wohl der falsche Ausdruck.«
    »Was habe ich denn getan?«
    Sie drückte den letzten Streifen Klebeband fest, ließ seine Hand los und trat einen Schritt zurück. Sie sah auf die Schere in ihrer Hand hinab und warf sie durch die Luft, so dass sie mit einem Klirren oben auf dem Schrank landete. Dann starrte sie Melvin aus zusammengekniffenen Augen an.

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