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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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eilig, nach Hause zu kommen, und ihr Eifer gefiel Dave gar nicht. Als die Fahrt zu Ende war, schmerzten Dave die Augen von der Kälte und dem Wind, und er konnte kaum die Umrisse des großen Hauses erkennen, das gleich hinter der Peconic Bay sichtbar wurde. Es war in ausgeprägt gotischem Stil gehalten, mit steinernen Torbogen und Gewölben, und wirkte mit seinen senkrechten Linien und hochragenden Türmen wie eine Kirche.
    Drinnen atmete Dave auf, weil dort die Kreuzrippengewölbe und Strebepfeiler und schmalen Fenster durch die konventionellere Einrichtung gemildert wurden: Perserteppiche, dänisches Kunsthandwerk, englische Möbel. In dem Haus gab es mehr Korridore als in anderen Häusern Zimmer, und das Wohnzimmer (sie korrigierte Dave, indem sie es als Salon bezeichnete) war groß genug, um als Fußballübungsplatz zu dienen.
    Ein Hausmädchen nahm die Mäntel entgegen. Dann ließen sie sich mit eisgekühlten Martinis vor einem riesigen aus Steinen gemauerten Kamin nieder, und die Gräfin ließ es sich nicht nehmen selbst den Wachsstock anzuzünden, der die dicken Scheite in Brand setzte. Dave mußte zugeben, daß das Milieu ungewöhnlich war, aber ihm war gar nicht wohl bei dem Gefühl, die Rolle einer jungen Unschuld spielen zu müssen, die von einem weiblichen Dracula verführt werden soll.
    »Na also!« sagte die Gräfin mit einem Seufzer und lehnte sich in die Ecke eines geschwungenen, drei Meter langen Sofas zurück. »Gar nicht so übel, wie?«
    »Wunderbar«, sagte Dave tonlos.
    »Warten Sie nur, bis Sie es bei Tag sehen. Das Grundstück ist einfach hinreißend. Früher habe ich selber viel im Garten gearbeitet. Jetzt aber nicht mehr. Sitzen Sie wirklich bequem?«
    »Wirklich!« erwiderte Dave aus der anderen Sofaecke her.
    »Sie sind viel zu weit weg. Kommen Sie näher.« Sie klopfte auf den Platz neben sich. »Setzen Sie sich hierher und plaudern Sie mit mir. Aber nicht über geschäftliche Dinge, das müssen Sie mir versprechen.«
    Er gehorchte, brachte aber kein Gespräch in Gang. Dann brachte ihn das Bild über dem Kaminsims auf eine Idee. Es war das Porträt eines ernstblickenden Mannes, seine Kinnpartie wirkte schwächlich, er trug eine blaue Uniform mit Epauletten. »Erzählen Sie mir von Ihrem Mann«, sagte Dave.
    »Von Andrew? Was ist denn da viel zu erzählen? Andrew war ganz einfach Andrew. Ein Kavalier aus einer Schule, die keine Schüler mehr hat.« Sie lachte leise vor sich hin. »Wir haben furchtbar jung geheiratet, unsere Eltern hatten uns miteinander verlobt, als ich erst zehn und Andrew vierzehn war. Stellen Sie sich das vor: Kalte Berechnung. Da lobe ich mir eure amerikanischen Sitten – die romantische Liebe! Vielleicht ist sie nicht immer zweckmäßig, aber sie macht einem mehr Spaß. Meinen Sie nicht?«
    »Ja«, erwiderte Dave. »Sicher.«
    »Nicht etwa, daß mir Andrew nicht sehr romantisch erschienen wäre! In seiner Uniform sah er wirklich schön aus. Haben Sie beim Militär gedient, David?«
    »Zweimal. Zweimal hat es mich erwischt. Aber ich bezweifle, daß ich eine so strahlende Erscheinung war. Ich bin beide Male Korporal gewesen. Wir Korporale tragen keine Epauletten.«
    »Rücken Sie ein bißchen näher.«
    Dave verschob sich um zweieinhalb Zentimeter.
    »Wenn es bloß regnen wollte!« sagte die Gräfin theatralisch und warf den Kopf zurück. »Ich liebe es, wenn der Regen an die komischen alten Fenster trommelt.«
    »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Dave beunruhigt.
    »Es gibt nichts Gemütlicheres, nicht wahr? Außen Regen, innen Feuer.«
    ›Was zum Teufel!‹ dachte Dave. Es war unvermeidlich, unentrinnbar. Wenn sie gedruckte Einladungskarten verschickt hätte, wäre die Situation nicht klarer geworden. Es hatte keinen Zweck mehr, seine Ehre zu verteidigen. Er war es müde, das Unumgängliche hinauszuschieben. Er rückte sogar noch näher an die Gräfin heran und legte den linken Arm um ihre Schulter. Dann zuckte er leicht resigniert die Achseln und schob den rechten Arm um ihre Taille. Einen Augenblick lang sah sie verdutzt drein, und dann küßte er sie.
    »David!«
    Es klang keineswegs zärtlich und liebevoll. Sondern höchst erstaunt.
    »Um Gottes Willen, David! Was fällt Ihnen ein?«
    »Verzeihung, Frau Gräfin –« »Sie Kindskopf! Was soll denn das heißen, eine alte Frau so zu küssen?«
    »Wie?«
    Sie lachte krampfhaft. »Und noch dazu hier unter Andrews Porträt. Ich fürchte, hier ist es zu stimmungsvoll für Sie, David.«
    »Ich verstehe nicht

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