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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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–«
    »Ich auch nicht. Aber es war ein nettes Kompliment, und ich danke Ihnen dafür.« Belustigt sah sie ihn an. »Haben Sie gedacht, ich wollte Sie ermuntern? Wie schrecklich von Ihnen!«
    »Hören Sie zu, Frau Gräfin –«
    »David, ich kenne mich selber sehr gut. Ich bin in vieler Hinsicht töricht – aber Gott sei Dank, nicht mehr, wenn es sich um Männer handelt. Wenn Sie mir versprechen, es nicht weiterzusagen, werde ich Ihnen mein wahres Alter verraten. Ich bin achtundvierzig, David. Bestimmt so alt wie Ihre Mutter. Jetzt aber«, fügte sie hinzu und strich den Rock glatt, während ihre Augen noch immer ein wenig funkelten, »wollen wir nicht mehr davon reden. Außerdem möchte ich Sie mit jemandem bekannt machen.«
    »Heißt das, daß Sie noch jemanden eingeladen haben?«
    »Eigentlich nicht. Es wohnt noch jemand außer mir in diesem Haus.« Wieder sah sie ihn lächelnd an, strafend und zugleich nachsichtig. »Bleiben Sie jetzt brav sitzen, Sie ungezogener Junge, ich bin gleich wieder da.«
    Sie verließ den Raum. Dave kam sich wie ein Idiot vor. Er blickte zu dem Porträt hinauf, und Andrews Miene erschien ihm gar nicht mehr so ernst.
    Als die Gräfin zurückkehrte, folgte ihr ein junges Mädchen im Schlepptau.
    »David«, sagte sie, »das ist meine Tochter Sonja.«
    Sie schob das junge Mädchen vor sich, und David kniff die Augen zu. Sonja war groß und ätherisch, die Blässe ihrer Haut kontrastierte lebhaft mit der schwarzen Haarkrone, die ihr Haupt umgab. Sie hatte ein schmales Gesicht mit zarten Knochen, deren feine Struktur sich unter der durchscheinenden Haut abzeichnete. Ihre Augen waren groß und lavendelblau, aber ihre verblüffende Farbe wurde immer wieder von ihren gesenkten Wimpern verdeckt. Alles in allem glaubte Dave, noch nie in seinem Leben ein so schönes und überirdisches Geschöpf gesehen zu haben.
    »Ich – ich wußte gar nicht, daß Sie eine Tochter haben«, stieß er albern hervor und versuchte zu lächeln.
    »Nur wenige wissen es. Aber Sonja ist der Mensch, den ich am liebsten habe. Begrüße den Herrn, Sonja.«
    »Guten Abend«, sagte Sonja mit leiser, gutturaler Stimme. Sie streckte die Hand aus, und Dave nahm sie behutsam, als habe er Angst, sie zu zerbrechen. Aber die zarten Finger fühlten sich erstaunlich kräftig an. »Meine Mutter hat oft von Ihnen gesprochen, Mr. Robbins. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
    »Aber sei doch nicht so förmlich«, sagte die Gräfin lachend. »Komm, setzen wir uns zusammen. David, vielleicht könnten Sie Sonja einen Drink mixen. Sie hat am liebsten Whisky-Soda. Ja?«
    »Gern«, erwiderte Dave nervös. »Sagen Sie nur, wo.«
    »Dort drüben«, erwiderte die Gräfin vergnügt. »Wir werden einen reizenden Abend miteinander verbringen. Ja, ich habe für nachher eine großartige Idee. Nach dem Essen spielen wir ›Scrabble‹!«
    »Das ist schön«, krächzte Dave und griff nach der WhiskyKaraffe. »Ich mag ›Scrabble‹.«
    Der Feuerschein huschte über die Strebepfeiler, Mutter und Tochter saßen auf dem Sofa und sahen bewundernd zu, wie ihr Gast mit ungeschickten Fingern den Whisky-Soda mixte.
    Am Sonntagnachmittag um vier Uhr verließ Dave Robbins Romanvilla. Er war mehr als froh, mit dem Zug in die Stadt zurückfahren zu dürfen. Das Wochenende war völlig anders ausgefallen, als er erwartet hatte, aber er fragte sich, ob nicht die ursprüngliche Version vorzuziehen gewesen wäre. Denn jetzt war ihm klar, daß die Gräfin sich nach wie vor für ihn interessierte, nicht als Liebhaber, aber ganz offenbar als Schwiegersohn.
    Ohne Zweifel war Sonja durchaus begehrenswert. Sie hatte einen märchenhaften Zauber und eine Art elfenhafter Schönheit an sich, die Dave an die verblichenen Porträts von Königinnen und Prinzessinnen erinnerte. Aber Dave stand auf eigenen Beinen. Er ließ sich seine Angelegenheiten – ob in der Liebe oder im Beruf nicht gern von anderen ordnen. Mit unverhohlener Erleichterung kehrte er zu der rauhen Wirklichkeit der Long Island Railroad zurück.
    Auf dem Bahnsteig kaufte er eine Zeitung und begab sich in den überfüllten Wartesaal, um sich aufzuwärmen. Zu dieser Tageszeit verkehrten die Züge in großen Abständen, und er würde lange warten müssen. Er setzte sich auf eine der Holzbänke und entfaltete die Zeitung.
    Auf Seite eins sah er die Rubrik mit der Sondermeldung.
    Frauenmord in Fifth Avenue Hotel
    New York, 9. Januar. Heute am frühen Morgen wurde im Park Carlton Hotel an der unteren Fifth Avenue ein

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