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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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mit einem klei­nen Problem beschäftigt.«
    »Freilich hat es Zeit. Was ist das für ein Problem?«
    »Vielleicht kannst du es lösen. Ich habe hier die Fotos, die Bernstein vorigen Monat aufgenommen hat, und daneben die Serien, die Smalley heute nachmittag geliefert hat. Fällt dir nichts auf?«
    Dave verglich die Serien miteinander. »Nichts Besonderes.«
    »Siehst du nicht, daß da etwas nicht stimmt?«
    »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
    »Ich meine Donald. Siehst du nicht den Unterschied?«
    »Der Junge ist natürlich inzwischen einen Monat älter gewor­den. In diesem Alter wachsen die Kinder schnell heran.«
    Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
    »Du wirst recht haben. Es war einfach dumm von mir.«
    »Was hat dich denn gestört?«
    »Ich weiß es selber nicht recht. Aber einen Augenblick lang – hatte ich das Gefühl, daß es nicht dasselbe Baby ist.«
    Nachdem Dave in sein Büro zurückgekehrt war, griff er gei­stesabwesend nach dem Fläschchen mit Meprobomat und nahm pflichtschuldig seine Tablette. Er behielt sie wohl, bevor er sie hinunterschluckte, etwas zu lange auf der Zunge; sie schmeckte bitter.
    Es war halb fünf, und er hatte keine rechte Lust, vor dem Feier­abend noch etwas zu tun. Er dachte schon daran, in Janeys Büro zurückzukehren und die seltsame Unstimmigkeit näher zu unter­suchen, die sie auf den Fotos entdeckt zu haben glaubte, aber ganz plötzlich überfiel ihn eine tiefe Müdigkeit. Er lehnte sich in seinen Drehstuhl zurück und betrachtete durchs Fenster das kleine Stückchen Horizont, dessen Anblick ihm vergönnt war. Mit dem Einbruch der Dämmerung wurde die Luft dunstig, und die kup­ferbeschlagenen Firste der Häuser begannen zu verschwimmen. Er rieb sich die Augen und dann den Magen, in dem sich ein na­gender Schmerz bemerkbar machte. Vielleicht, dachte er, hatte der Arzt sich geirrt. Vielleicht hatte er doch ein Geschwür.
    Der Schmerz wurde heftiger. Mühsam erhob er sich und ging zum Wasserkühler. Sein Fuß schien das Pedal nicht finden zu können, das den Wasserstrahl auslöste, und es wurde ihm so schwindlig, daß er sich anlehnen mußte. ›Was zum Teufel !‹ dachte er.
    Louise kam vorbei und äußerte ihre Besorgnis. Er hörte nicht, was sie sagte, erwiderte jedoch murmelnd, es fehle ihm nichts.
    Dann wollte er in sein Büro zurückkehren. Die Türpfosten stan­den seltsam schief, und er versuchte, sie mit den Händen gera­dezurichten. Seine Finger aber waren kraftlos, und sein Magen wurde immer rebellischer. Er ließ die aussichtslose Bemühung sein, setzte sich seufzend auf den Fußboden und übergab sich. Er saß noch immer dort, als man ihm zu Hilfe kam, wußte aber nicht, was das für Leute waren.

3
    99,44 prozentig rein
    Er lag auf irgendeinem Sofa, und über seinem Kopf spielte sich eine hitzige Debatte ab. Es war eine akademische Debatte: Amateur-Diagnosen, unfehlbare Hausmittel und allgemeine Ratlosigkeit, was wohl als nächstes zu tun sei. Er glaubte, Janeys Stimme scharf in die Diskussion eingreifen zu hören, und wußte, daß alles, was sie sagte, bestimmt vernünftig und richtig sei. Hoffentlich würde sie sich durchsetzen. Er wußte nicht, ob es sich so ergeben hatte. Das nächste, was ihm zu Bewußtsein kam, war der Anblick eines Mannes mit einem Mondgesicht und einem geringelten Schnurrbart, der wie von einem Zeichner entworfen unter der Nase saß. Dann fühlte Dave die kalte Berührung eines Stethoskops auf der nackten Brust, und dann beantwortete er murmelnd leise, präzise Fragen, und dann schlief er ein, träumte und fühlte sich sehr wohl, als ob er über allem schwebte.
    Er erinnerte sich auch dunkel an eine Taxifahrt, und wie Janeys Hand sanft und zärtlich sein Gesicht streichelte und ihm das kühle Laken seines Bettes irgendwie behaglicher, luxuriöser erschien denn je zuvor. Er erinnerte sich, das Gesicht im Kissen vergraben, mit gespitzten Ohren den angenehmen Geräuschen aus der Küche lauschend, und lächelte in sich hinein, als er sich Janey vorstellte, in hübscher Baumwollschürze, die Wangen von der Ofenhitze gerötet, wie sie etwas in einer Schale umrührte und eine Melodie vor sich hinsummte: das vollendete Bild häuslichen Liebreizes. Dann kam sie an seinem Bett vorbei, und er streckte die Hand nach dem seidigen Bein aus.
    »Au!« Er öffnete das eine Auge und rieb sich das schmerzende Handgelenk. »Warum hast du das gemacht?«
    »Hände weg, mein Herr! Für solche Sachen sind Sie zu krank.«
    Dave versuchte sich

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