Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
denken.«
»So?«
»Ich hielt es für einen Zufall. Damals.«
»Heute nicht mehr?«
»Aus einem bestimmten Grund. Vorigen Donnerstag nahm ich eine Tablette, eine unschuldige kleine weiße Tablette, angeblich ein Beruhigungsmittel – die Witze können Sie sich sparen. Aber sie wirkte durchaus nicht beruhigend. Im Gegenteil. Mir wurde hundeübel. Wenn ich nicht das verdammte Zeug ausgekotzt hätte, würde ich Sie heute nicht belästigen. Ich glaube nicht, daß es sich um ein Versehen gehandelt hat.«
»Aha. Sie vermuten, daß Sie auf dem Vormerkkalender eines Mörders verzeichnet sind.«
»Ich kann nichts beweisen. Ich habe mich an ein chemisches Laboratorium gewandt. Die Analyse hat mich ein halbes Wochengehalt gekostet. Aber die restlichen Tabletten in dem Fläschchen sind einwandfrei.«
»Ihrer Meinung nach hängt das alles mit Annie Gander zusammen?«
»Ich habe meine Gründe. Freilich sind sie etwas nebulös. Vielleicht sehe ich Gespenster, vielleicht will mir jemand aus einem ganz anderen Grund auf den Pelz rücken. Zum Beispiel sitzt in meiner Firma ein Mann, der sehr wütend darüber ist, daß ich einen Job bekommen habe, auf den er spekuliert hat.«
Theringer lachte lautlos, aber mit sichtlichem Vergnügen in sich hinein. »Mord in der Madison Avenue, wie? Mörderische Reklame! Großartig für die Sonntagsbeilage, junger Mann! Vergessen Sie nicht, mir ein Vorkaufsrecht zu sichern.«
»Sie glauben es mir also nicht?«
»Meiner Meinung nach haben Sie zu lange vor dem Fernsehschirm gesessen, lieber Freund. Oder zu viele Beruhigungstabletten geschluckt.«
»Sie sind ein mieser Bursche«, sagte Dave gelassen. »Wirklich mies. Wenn ich nicht ein so sanftes Gemüt hätte, würde ich Ihnen zeigen, was echte amerikanische Kunst ist – eins in die Fresse.«
Er stand auf.
Theringers Reaktion war erstaunlich. »Setzen Sie sich«, sagte er grinsend. »Ich habe ein Foto.«
»Was?«
»Ein Bild. Man möchte es sich nicht gerade einrahmen lassen, aber es sagt Ihnen, was Sie wissen wollen.« Er griff in die Tasche. Plötzlich strahlte er vor Liebenswürdigkeit. »Eine Aufnahme der Leiche fürs Archiv. Wir werden sie nicht veröffentlichen.«
Dave ließ sich von dem Reporter den blanken Abzug geben und sah, was gemeint war. Annie Ganders Leichnam würde einem am Frühstückstisch nicht eben Freude machen. Das Geschoß war in den Hals eingedrungen, und die Wirkung war nicht sehr schön.
Aber nun blieb kein Zweifel mehr bestehen: Annie Gander war die Frau, die Dave in Hagertys Vorzimmer gesehen hatte.
»Gut«, sagte er. »Nun wollen wir uns unterhalten.«
»Trinken Sie das Bier nicht?«
Dave lächelte. »Um Gottes willen, nein. Ich nehme einen Martini. Solange Gus nur Vermouth hineintut.«
Als an diesem Abend um neun Daves Türglocke klingelte, hatte er nur halb und halb die Erscheinung erwartet, die vor der Tür stand. Natürlich wußte er, es würde Janey sein. Meistens, wenn sie nicht ausgingen, verbrachten sie die Abende bei Dave, da Janey ihre Wohnung mit zwei kichernden und neugierigen Geschlechtsgenossinnen teilen mußte. Aber er war nicht darauf gefaßt, eine Janey vor sich zu sehen, die den üblichen Rock und Pullover durch ein rauschendes Satinkleid ersetzt hatte.
Er kniff die Augen zu und fragte: »Na, sag mal, aus welchem Anlaß?«
Sie lachte und wurde sogar ein wenig rot. Sie setzten sich aufs Sofa. Dave kratzte sich die stoppelige Wange. In seinem zerknitterten Sporthemd und der ungebügelten Hose kam er sich recht schmutzig vor.
Dann erzählte er Janey von Annie Gander.
Während er kurz sein Gespräch mit Max Theringer schilderte, hörte sie verdutzt zu und wußte nicht recht, ob er es ernst meine. Aber als er wieder die geheimnisvollen hundertfünfundzwanzigtausend Dollar und Annie Ganders Besuch in der Firma erwähnte, stieß sie sogleich hervor: »Hör zu! Du wirst doch nicht am Ende Onkel Homer mit diesem Mord in Verbindung bringen wollen!«
»Nein, nein!« erwiderte Dave hastig. »Nach Ansicht von Max verfolgt die Polizei bereits eine Spur.«
»Nämlich?«
»Einen rauhen Kunden namens Willie Shenk. Er ist einer der zahlreichen Freunde der seligen Annie Gander gewesen. Max nennt ihn den Schönen Willie, ich weiß aber nicht, warum. Im Verlauf eines Bandenkrieges wurde ihm die Nasenspitze abgehauen, und er hat sich nicht die Mühe gemacht, sie flicken zu lassen. Ein richtiger Ganove von altem Schrot und Korn.«
»Gespielt von James Cagney.«
»Nein, Originalausgabe. Er hat zehn
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