Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Jahre gesessen, und das hat offenbar nicht genügt. Die Polizei nimmt an, daß Annie und Willie Shenk sich gestritten haben. Eifersucht.«
»Wo steckt er jetzt?«
»Er hat seine Koffer gepackt und ist verschwunden. Offenbar ist es mehr als ein Zufall, daß er gerade in dem Augenblick wegfährt, wo seine Freundin erschossen wird. Die Polizei schweigt, um ihn in Sicherheit zu wiegen.«
Ein Schauder überlief Janey.
»Mit solchen Leuten kann doch Onkel Homer nichts zu tun haben!«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber die Sache macht mir Sorgen. Besonders nach der Tablettengeschichte.«
»Was für eine Tablettengeschichte?«
Er öffnete den Mund und machte ihn wieder zu. »Nichts. Du, paß auf, ich habe eine Idee. Wenn du ohnehin so hübsch angezogen bist, werde ich mich umziehen, und wir gehen irgendwohin. Was meinst du? Vielleicht tanzen. Seit mich Onkel Homer so fürstlich bezahlt –«
»Na gut«, erwiderte Janey müde. »Wenn du Lust hast.«
»Das klingt nicht sehr begeistert.«
»Soll ich denn begeistert sein? Ich finde die Idee nicht schlecht – da ich mich nun einmal gut angezogen habe. Es war dumm von mir.«
»Was war dumm?«
Sie blickte zu Boden. »Als du mich heute abend anriefst, ob ich nicht vorbeikommen wollte – da hast du gesagt, du hättest mir etwas Wichtiges mitzuteilen.«
»Na ja, ich meine, ich finde, die Sache mit Annie Gander ist doch –«
»Egal, Dave.«
Er fing gerade an, sich zu rasieren, als ihm klar wurde, was Janey gemeint hatte.
Der Gedanke, Gordon und Grace Tait aufzusuchen, kam Dave erst spät am nächsten Nachmittag. Seit einer knappen Woche war Gordon wieder zu Hause, aber noch immer ans Bett gefesselt. Es war zu bezweifeln, daß ein Besuch ihm recht sein würde, aber Dave empfand das dringende Bedürfnis, weitere Teile des Puzzles zusammenzutragen.
Als er bei den Taits in Sword’s Point anrief, holte das Mädchen die Frau des Hauses ans Telefon.
»Ich weiß, es ist eine Zumutung«, sagte Dave schüchtern, »aber was ich mit Gordon zu besprechen habe, ist recht wichtig.«
Grace Tait schien zu zögern. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mr. Robbins. Natürlich würde Gordon gern Gesellschaft haben, er langweilt sich zu Tode. Aber er muß jeder Aufregung aus dem Wege gehen.«
»Was ich zu sagen habe, wird ihn nicht aufregen. Vielleicht wird es ihn nur noch mehr langweilen.«
Sie lachte. »Schön. Dann um neun.«
Der Rest des Nachmittags wurde durch eine Arbeitsbesprechung in Anspruch genommen. Dave saß am untersten Ende des Konferenztisches und hörte zu, wie der Chef der Firma seine Ansichten darlegte, machte sich seine privaten Gedanken über Homer Hagerty und hätte gern gewußt, was für dunkle unterirdische Tiefen sich in diesem kultivierten, weißhaarigen Herrn verbergen mochten, der mit so ruhiger Hand und leiser Stimme sein Unternehmen leitete.
Dave aß in der Nähe des Bahnhofs und setzte sich dann bis zur Abfahrt des Zuges ins Wochenschaukino. Die Fahrt nach
Sword’s Point hatte eine einschläfernde Wirkung.
Der Besitz der Taits hatte früher einmal in der exklusivsten Wohngegend von Westchester County gelegen. Nun war er einem veränderten Bauplan zum Opfer gefallen, und das Taxi, das Dave zu ihrer Tür beförderte, fuhr an einer Anzahl dicht besiedelter Wohnviertel vorbei. Aber das Dickicht der Siedlungshäuser trug nur dazu bei, die Pracht der Villa Tait zu betonen. Fast einen Kilometer weit lief ein bepflasterter Weg durch üppiges Gartengelände. Das Haus selbst stand da wie das weiße Gespenst eines Herrenhauses aus dem Süden. Dave war beinahe darauf gefaßt, von weißhaarigen Negersklaven empfangen zu werden und Grace Tait selbst in Reifrock und lässiger Haltung auf der Veranda zu sehen.
Statt dessen trug die Herrin des Hauses eine Samthose, ein maßgeschneidertes Hemd und an den Armen lauter afrikanische Silberreifen. Und ihre Begrüßung war alles eher als von der Herzlichkeit des Südens.
»Sie werden doch nicht allzu lange bleiben?« sagte sie. »Gor- don hat heute schon den ganzen Tag nicht sehr gut ausgesehen. Er ist viel schwächer, als er meint.«
»Ich bleibe nicht lange, Mrs. Tait«, versprach Dave. »Es sind nur ein paar geschäftliche Dinge zu klären. Was sagen die Ärzte?«
»Doktor Dishman war gestern hier. Anscheinend kann man momentan eigentlich gar nichts für ihn tun. Dishman hat mir einige Medikamente dagelassen, ich glaube, es sind Nitroglyzerintabletten für den Fall, daß es Gordon schlechter geht. Wollen
Weitere Kostenlose Bücher