Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
warum, aber er drehte den Knauf und trat ein.
An Janeys Zeichenbrett stand Harlow Ross, eifrig über den Skizzenblock gebeugt, einen Fettstift in der Hand. Mit einem rasch erlöschenden Lächeln blickte er auf und klappte den Block zu.
»Hallo, Dave!« sagte er dümmlich. »Ich wollte eben nur ein paar Zeilen für Janey hinterlassen.«
»Ist sie nicht da?«
»Noch nicht. Hören Sie mal, ich möchte mit Ihnen über die Burke-Sache sprechen. Ich weiß, Sie werden denken, daß ich Quatsch rede, aber ich habe mich wirklich darüber gefreut, daß der alte Cubby Sie behalten will. Wie ich gehört habe, hat er Ihnen ein Bild ›unseres lieben Chefs‹ geschickt.«
»Das stimmt«, erwiderte Dave kurz. Er hatte an diesem Morgen gar keinen Sinn für Ross’ betonte Jovialität. »Lassen Sie auch in meinem Namen eine Zeile zurück, ja? Bitten Sie Janey, mich anzurufen.«
»Weshalb?« fragte Janey, die hinter ihm hereingekommen war. Sie trug einen Tweedmantel über dem Arm. An der anderen Hand baumelte eine Ledertasche.
»Na, so etwas!« sagte Dave. »Seit wann komme ich früher ins Büro als du?«
Sie fegte an ihm vorbei, und Harlow Ross, lächelnd wie der erklärte Günstling am Hofe Ihrer Majestät, erhob sich und nahm ihren Mantel entgegen. Er hängte ihn hinter die Tür und schob ihr dann den Stuhl vor dem Zeichenbrett zurecht.
»Ihr habt wohl etwas Geschäftliches zu besprechen«, sagte Ross liebenswürdig. »Da werde ich mich aus dem Staub machen. Wenn er frech wird, Janey, brauchst du nur zu rufen.«
Seine Aufmerksamkeiten ließen Janey völlig unberührt. Nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte, begann sie einen Bleistift zu spitzen, mit der grimmigen Miene eines Maori-Kriegers, der seine Speerspitze schärft.
Dave sah ihr eine Weile zu, dann sagte er: »Sei unbesorgt, es handelt sich wirklich um eine geschäftliche Sache. Onkel Homer hat mir sagen lassen, ich solle mich um den Probeabzug der Burke-Annonce kümmern. Kermit will ihn sehen.«
»Er wird gerade im Atelier montiert.«
»Oh!« Er nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Er wollte nicht weggehen. »Darf ich dir etwas davon anbieten?«
»Danke, nein.«
Dave verzog das Gesicht. »Nun, hör mal, findest du nicht, daß du aufhören könntest, die ›beleidigte Schönheit‹ zu markieren?«
»Der Abzug liegt im Atelier«, sagte Janey. »Hattest du sonst noch irgendwelche Wünsche?«
»Ja, zum Donnerwetter!« Er knallte den Kaffeebecher auf ihr Stehpult, so daß sich eine kleine Springflut über ihre Utensilien ergoß. »Erstens einmal kannst du die Burke-Baby-Fotos mir übergeben. Wie du weißt, ist das nach wie vor mein Ressort, auch wenn es Onkel Homer nicht paßt. Ich will die Fotos bei mir verwahren, die ganze Serie, vom Anfang der Kampagne an.«
»Wozu? Sie gehören ins Archiv der künstlerischen Abteilung.«
»Es ist mir egal, wo sie hingehören. Ich habe meine Gründe. Wenn du daraus eine hochoffizielle Angelegenheit machen willst, werde ich dir eine Aktennotiz schicken.«
Sie blies Bleistiftspäne von ihrer Rasierklinge.
»Na?« sagte Dave. »Wie steht es damit? Bekomme ich die Bilder, oder hat Onkel Homer dich angewiesen, sie niemandem auszuliefern?«
»Ich hab die Fotos nicht.«
»Wie?«
»Ich habe sie nicht. Ich habe sie seit der vorigen Woche nicht mehr. Jemand hat den ganzen Stoß aus dem Archiv herausgenommen.«
»Jemand? Ja, wer denn?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ein Memo durch sämtliche Abteilungen geschickt und angefragt, ob jemand sie gesehen habe, aber ich habe keine Antwort bekommen. Hast du das Memo nicht gelesen?«
»Nein«, erwiderte Dave schuldbewußt. Es gab viele Memoranden, die er nie las.
»Du kannst ja in der abgelegten Bürokorrespondenz nachschlagen und es lesen«, sagte sie kalt. »Für den Fall, daß du mir keinen Glauben schenkst.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Du sagst vieles nicht. Aber du denkst schrecklich laut, nicht wahr?«
»Ach, dummes Zeug!« brummte Dave. »Deine Haltung ist völlig unlogisch. Du regst dich wegen Onkel Homer auf, weil mir dieser Baby-Schlamassel nicht gefällt, in den er mich hineinmanövriert hat. Ich habe schon oft von Komplikationen mit angeheirateten Verwandten gehört, aber das ist doch, bei Gott, einfach lächerlich. Wir sind noch nicht einmal verheiratet.«
Ein fast unmerkliches Zucken huschte über Janeys frostige Miene. Dave sah es, und dann zuckte auch er.
»Ich meine nur«, fuhr er etwas lahm fort, kaum dessen bewußt, was er sagte, »ich meine
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