Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Idee. Wenn ich kann, werde ich Ihnen helfen, aber Sie müssen sich an die Fakten halten. Die Polizei ist überzeugt davon, daß Sie Annie umgebracht haben, und bei Ihren Vorstrafen müssen Sie mit einer Verurteilung rechnen. Also heraus mit der Sprache!«
»Nur nicht drohen, lieber Mann.« Willie Shenk musterte den Reporter mit zusammengekniffenen Augen. »Ich erzähle Ihnen alles, was ich weiß. Zwei Tage bevor Annie umgelegt wurde, bin ich weggezogen. Wir hatten uns gestritten.«
»Weswegen?«
»Wegen Geld. Mir gefiel ihr Leben nicht. Sie hatte zuviel Geld. Ich hatte sie im Verdacht, einen reichen Freund zu haben. Ab und zu mal sah ich einen Mann aus dem Haus kommen, aber sie behauptete immer, ihn nicht zu kennen. Eines Nachts kam es zu einem Wortwechsel, und ich schlug sie. Nicht zu schlimm und nicht so, daß man nachher was gesehen hätte. Aber seit etwa zwei Jahren war sie mir zu selbständig geworden. Sie sagte mir, ich solle verschwinden. Na, da bin ich eben verschwunden.«
»War das alles?«
»Das war alles. Ich habe sie nicht umgebracht, Mr. Theringer. Das ist die reine Wahrheit. Ich will Ihnen was Komisches gestehen. Ich hab das Mädel wirklich gern gehabt. Ich habe sie sehr gern gehabt.«
Das blasse, schmale Gesicht mit der merkwürdig verkürzten Nase sah mit einem Mal seltsam rührend aus.
»Okay«, sagte Max Theringer. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, Willie.«
Willie stand auf. Er war nicht sehr groß und nicht sehr breitschultrig. Aber der Buckel unter seiner linken Achselhöhle gab deutlich zu verstehen, daß Muskeln nicht alles bedeuten. Interessiert sah er sich im Büro des Werbefachmanns um. Er nahm den Entwurf einer neuen Burke-Annonce zur Hand und las achselzuckend die Überschrift. Dann griff er nach dem eingerahmten Foto auf Daves Schreibtisch und riß den Mund auf, so daß seine schadhaften Zähne sichtbar wurden.
»Er!« sagte er.
»Wer?« Max sah Dave an.
»Um Gottes willen, das ist er doch! Der Kerl, der sich bei ihr herumtrieb. Das ist er!«
Dave nahm ihm das Foto aus der Hand und betrachtete die Züge Kermit ›Cubby‹ Burkes mit neuen Augen.
8
Sie drücken den Knopf, wir tun den Rest
Um zwei Uhr früh nahm er ein Schlafmittel, das aber erst um vier zu wirken begann. Als das schrille Geklingel des Weckers ihn um acht aus dem Bett scheuchte, ging er ächzend ins Badezimmer und holte eine Coffeintablette aus dem Arznei schränkchen. Er sah sich im Spiegel zu, wie er die Pille schluckte, und sagte laut:
»Okay, ihr zwei Pillen! Kämpft es untereinander aus!«
Im Taxi, das Zoll um Zoll durch die Stadt kroch, schien das Schlafmittel die Oberhand zu behalten. Dave sackte in sich zusammen, sein Kopf baumelte herab, und vor dem Eingang des Bürohauses mußte der Chauffeur ihn mit einem: »He, lieber Mann!« wachrütteln. In verschlafener Großzügigkeit gab ihm Dave fast ebensoviel Trinkgeld, wie der Fahrpreis ausmachte. Er beantwortete weder den meteorologischen Kommentar des Liftboys noch das Guten Morgen der Empfangsdame, noch die Begrüßung seiner melancholischen Sekretärin. Das erste Wort, das er heiser hervorstieß, war:
»Kaffee!«
Louise reagierte wie ein Militärsanitäter, der den Befehl erhalten hat, Blutplasma zu holen. Sie rief im Cafe unten an und betonte die Dringlichkeit der Bestellung. Binnen fünf Minuten kam ein junger Mann in weißer Jacke mit der forschen Autorität eines Chirurgen den Korridor entlang. Mit mühsam geweiteten
Augen riß Dave den Pappdeckel vom Becher und nahm den ersten belebenden Schluck. Louise beobachtete ihn in zitternder Erwartung. »Aaah!« sagte Dave dankbar und erleichtert.
Der Tag hatte begonnen.
»Hat Mr. Hagerty schon nach mir verlangt?« fragte er. »Wir wollten heute früh Burke besuchen.«
»Ach, das habe ich ganz vergessen. Celia rief an und sagte, die Besprechung sei auf Montag verschoben. Mr. Hagerty mußte plötzlich verreisen. Aber er läßt Sie bitten, dafür zu sorgen, daß der Probeabzug der neuen Annonce bereitliegt. Und dann noch etwas über den Nielsen-Marktbericht. Sie sagte, Sie würden Bescheid wissen.«
Dave brummte etwas in sich hinein. Wenn er von dem Aufschub gewußt hätte, wäre er den ganzen Vormittag im Bett geblieben.
»Schön«, sagte er. »Fragen Sie Miss Hagerty, ob der Probeabzug fertig ist. Nein, warten Sie einen Augenblick! Ich werde sie selber fragen.«
Er nahm den Kaffeebecher und ging mit ihm den Korridor lang zu Janeys Arbeitsraum. Die Tür war noch immer zu, er wußte,
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