Das Grauen im Bembelparadies (German Edition)
mehr allzu weit, denn die Sonne brannte unbarmherzig mit dem offensichtlichen Ziel, aus dem hiesigen Menschenschlag Vollblut-Andalusier zu machen. Herr Schweitzer wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und kontrollierte, wie viele Falten seine gegerbte Lederhaut mittlerweile geschlagen hatte. Die wird doch jetzt nicht bis zum Goethe-Turm rauflaufen, betete er inständig, das schaffe ich nie. Immerhin rannte Dora nicht. Doch ihre Schrittfrequenz ließ ein Ziel vermuten. Das wiederum gefiel Herrn Schweitzer.
Kurz vor dem Henninger-Turm verlangsamte Dora Rutke urplötzlich ihre Schritte, als zögere sie, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Dann ging sie auf das seit der Insolvenz der ehemaligen Traditions-Brauerei brachliegende Industriegelände, wo früher unter anderem mal ein Teil der Verwaltung untergebracht war.
Herr Schweitzer passierte die Einfahrt und schlich sich dann an der mit allerlei Gestrüpp und Unkraut überwucherten ehemaligen Restaurant-Terrasse vorbei und ein paar Meter am löchrigenund verrosteten Zaun entlang, der die beiden Grundstücke voneinander trennte. Dornen stachen durch seine Hosenbeine und in die nackten Unterarme. Aber für unheldenhaftes Rumgeflenne war nicht der rechte Augenblick. Herr Schweitzer war in seinem Element und wenn alles gutging, würde er – wer sonst? – dem verworrenen Rubik-Würfel, bildlich gesprochen, farblich einheitliche Seitenwände verpassen.
Dora rüttelte an einem rostbraunen Eisentor. Dann ging sie ein paar Schritte zurück und betrachtete die breiten dreckverschmierten, im Laufe der Zeit matt gewordenen Bürofenster im ersten Stock. Kurz darauf schritt sie zielstrebig auf einen Terrakotta-Kübel zu, in dem ein vierzig Zentimeter hohes Bäumchen vor sich hinwelkte, und tastete die staubige Erde ab. Offenbar suchte sie nach einem Schlüssel, fand aber keinen.
Und dann geschah etwas, was Herrn Schweitzer bis in alle Fasern seines Körpers aufs höchste elektrisierte. Dora rief Sebastians Namen. Nicht so laut, dass es bis auf die Straße zu hören gewesen wäre, doch immer und immer wieder. Zum Schluss fast flehentlich. Und dass er endlich aufmachen solle, sie suche ihn schon seit Tagen. Abschließend trat Dora mit voller Wucht gegen das Tor. Was aber nichts brachte, außer dass ein paar Tauben auf dem Dach davonflogen. Der resignative Seufzer konnte sogar von Herrn Schweitzer gehört werden.
Doch Dora gab nicht auf. Ihre Konzentration galt nun dem düster-grauen einstöckigen Nebengebäude, von dessen Dach man ein weiteres Fenster erreichen konnte. Sie versuchte vergeblich, auf Zehenspitzen das Ende der Feuerleiter zu greifen. Dann probierte Dora am Regenabflussrohr hinaufzuklettern. Beim dritten Versuch hatte sie schon fast zwei Meter Abstand zum Boden gewonnen, als es mit einem lauten Gedöns und Donnern aus der Verankerung riss und Dora laut schreiend darnieder schleuderte. Herr Schweitzer, ganz Gentleman, wollte schon zu Hilfe eilen, als ihm der Blödsinn seines Vorhabens bewusst wurde.
Dora kam auch ohne seine Hilfe wieder auf die Beine.
Herr Schweitzer atmete auf.
Als Nächstes durchstöberte sie das Gelände.
Zwei Minuten später kam sie mit einem alten hölzernen Bürostuhl wieder ums Eck und stellte ihn unter die Feuerleiter. Nun konnte sie die erste Sprosse ergreifen.
Herr Schweitzer fieberte mit. Das war wie im Kino, er konnte nichts dafür.
Doras Füße suchten Halt in einer kleinen Auslassung. Ihre Kraft reichte nicht, sich an den Händen hochzuziehen. Als auch das misslang, holte sie Schwung, um ein Bein nach oben zu bekommen und es in die Sprosse einzuhaken. Nach dem bestimmt zehnten Mal gab sie keuchend auf. Mit letzter Kraft nahm sie den Stuhl und zertrümmerte ihn an der Wand.
„Dann leck mich doch“, fluchte sie lauthals und trottete zur Ausfahrt.
Herr Schweitzer tippte mal aufs Geratewohl, der mit solcherlei Fluch Bedachte müsse der Sebastian sein. Er verzichtete auf eine weitere Observation. Was hätte das schon bringen sollen? Dora hatte Sebastian hinter diesen Mauern vermutet, aber dort war er nicht. Oder öffnete nicht. Was war eigentlich in dem runtergekommenen Gebäude? Eine geheime Luxuswohnung, die dem Oberhäuptling der Chicagoer Alkoholschmugglerbanden der 20er-Jahre zur Ehre gereicht hätte?
Er wartete einige Minuten, dann verließ er sein Versteck und ging auf den Hof, den Dora soeben verlassen hatte. Gleich beim gekachelten Häuschen, das erste in der Reihe und wohl die einstige Pförtnerloge, fing Herr
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