Das Grauen im Bembelparadies (German Edition)
Herr Specht?
Fünf Minuten verstrichen, in denen er allerlei Variationen durchkaute. Eine brauchbare war aber nicht darunter.
Nach weiteren zehn Minuten schlug er sich heftig gegen die Stirn und fand allerlei Lobesworte für sich. Von Großmeister über Universalgenie über Intelligenzbombe war fast alles dabei, was der Duden für außerordentlich Begabte so hergab.
Abermals kletterte er hinunter und schlang das Abschleppseil um die Aluminiumleiter, die er dann mit nach oben zog. Dort löste er das Seil und stellte die ausgezogene Leiter vors Fenster. Da sie die obere Querverstrebung um einiges überragte, hatte er eine prima Verankerung. Nun machte er ins Seil noch zwei Knoten zum besseren Greifen und band es um die Leiter. Er würde zwar immer noch einen guten Meter mit einem beherzten Sprung überwinden müssen, aber das sollten seine morschen Knochen doch überstehen. Oder? Wäre er zwanzig Jahre jünger, würde er sich mit den Händen an den Fensterrahmen hängen und dann einfach loslassen. War er aber nicht.
Und weil er es nicht war, kostete es natürlich einiges an Überwindung. Als seelische Vorbereitung wäre ein doppelter Whiskey jetzt nicht schlecht, träumte Herr Schweitzer. Als brauchbare Alternative konnte er sich auch einen Joint vorstellen. Trotzdem bezichtigte er sich nicht der liederlichen Vorbereitung, denn wie hätte er auch ahnen können, dass die Chose hier derart ausuferte. Er warf einen letzten Blick auf sein Konstrukt, spuckte in die Hände und los ging’s.
Aller Anfang ist leicht. Er steckte die Taschenlampe in die hintere Hosentasche und kletterte auf den Rahmen, hielt sich mit der Hand an einer Sprosse fest und suchte mit den Füßen den unterenKnoten. Dann ergriff er den ersten Knoten und krümmte seinen Körper, während sein rechter Fuß in die Schlaufe des Abschleppseils schlüpfte. Nun konnte er den unteren Knoten ergreifen.
Von da an wurde es akrobatisch, also schwierig, weil Herr Schweitzer kein Akrobat war. Ganz langsam ließ er beide Füße nach unten, während er gleichzeitig die Muskelpartien seiner Arme mächtig beanspruchte, um nicht wie ein nasser Sack abwärts zu plumpsen. Dann glitt seine rechte Hand am Seil herunter bis zur Schlaufe. Die Entfernung zwischen unterem Knoten und Schlaufe betrug einen halben Meter. Als er die Finger der linken Hand löste, musste seine rechte für den Bruchteil einer Sekunde die gesamte Last tragen. Der kritische Moment ging mit reichlich Herzrasen einher, wurde jedoch mit Bravour gemeistert. Beide Hände umklammerten die Schlaufe.
Noch ein Meter bis zum Boden. Herr Schweitzer ließ los und sprang. Nur um ein paar Zentimeter hatte er sich verschätzt, doch die genügten, um ein wenig das Gleichgewicht zu verlieren und nach hinten zu kippen. Doch auch Fallen will gelernt sein. Wie ein erfahrener Judoka rollte er sich ab. Leider über die Taschenlampe in seiner Hosentasche. „Autsch“, schrie er, als sein Gesäßknochen hierbei höllisch schmerzte. Aber ansonsten war alles nach Plan verlaufen. Herr Schweitzer stand auf und schüttelte sich. Nichts war gebrochen, nichts verstaucht. Was ein Stuntman wohl im Monat verdiente?, fragte er sich und sah eine weitere Karrieremöglichkeit vor sich liegen. Schließlich müssen in der einen oder anderen Szene ja auch Greise gedoubelt werden.
Er schaltete die Taschenlampe an, sie funktionierte noch. Als Erstes strahlte er das große Eisentor an, das Dora Rutke von außen öffnen wollte. Herr Schweitzer probierte die Klinke aus. Nichts zu machen, weiterhin verschlossen, womit aber zu rechnen war. Gleich daneben an der grauen ungetünchten Betonwand erblickte er einen altmodischen schwarzen Drehschalter aus Bakelit, den er umgehend betätigte. Und siehe da, es ward Licht. Zwarnur ein trübes, ausgehend von einer schwachen Glühbirne direkt über der Tür zum linken Nebengebäude, aber immerhin. Der Eintritt dorthin blieb ihm aber verwehrt, ebenfalls geschlossen. Herr Schweitzer sah sich um. An der Decke hing ein Lastenzug mit schweren Ketten an zwei fünf Meter langen Schienen, die in den Raum hineinliefen. Was es hier wohl früher zu heben galt, fragte er sich. Etliche schmutzverzierte und übereinander gestapelte Holzkisten bedeckten fast zwei Drittel der Rückwand. Der Boden war komplett betoniert und verstaubt, nur ein einsamer Schraubenzieher lag rostbefallen mitten in der ansonsten leeren Halle. Ein ehemals ockergelb lackierter Stechkartenhalter hing neben der einzigen anderen Tür, die sich
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