Das Grauen im Bembelparadies (German Edition)
hinten rechts befand. Die rechte Wand war durchgehend aus verrußten Ziegelsteinen, auf die jemand mit weißer Farbe ein trauriges Strichmännchen mit Pudelmütze und Schal gepinselt hatte.
Was blieb, war die andere Tür rechts hinten. Vielleicht war die ja ausnahmsweise mal nicht abgesperrt. Herr Schweitzer schritt über den staubigen Beton darauf zu. Und siehe da, sie ließ sich öffnen. Auch hier ein funktionstüchtiger Lichtschalter. Diesmal war es aber keine trübe Funzel, die einsam von der Decke hing, sondern gleich eine ganze Batterie von Neonröhren, die nach der üblichen Anlaufzeit ein Wohnzimmer in gleißendes Licht tauchte. Ja, ein Wohnzimmer. Herr Schweitzer staunte nicht schlecht. Etwa sechzig Quadratmeter als seitengleiches Viereck, vollgestopft mit allerhand Möbeln im Flohmarktstil. Zwei Sofas, vier Sessel, etliche Stühle unterschiedlicher Machart und einige mit Kissen drapierte Weinkisten boten sich als Sitzgelegenheiten dar. Die in einem Zartrosa gehaltenen Wände waren dort, wo keine Plakate und Poster hingen, mit Graffiti besprüht. Andy Warhols Marilyn Monroe lächelte gleich vier Mal von der Decke herab. Neben einer hüfthohen Anrichte thronte ein Monstrum von Musikanlage. Davor haufenweise CD-Hüllen. Auf einer schmalen Tür an der Rückwand prangten die zwei Buchstaben WC. In der linken Ecke vom Eingang aus betrachtet surrte ein weißer Kühlschrankvor sich hin. Zwei volle Bierkästen, sinnigerweise mit Henninger, gleich dem Turm nebenan, beschriftet, warteten auf Konsumenten. Herr Schweitzer öffnete den Kühlschrank, denn warmes Bier war ihm zuwider und wurde nicht umsonst vom Volksmund als Plörre, Brühe oder Pisse bezeichnet. Er hatte Glück und die Auswahl zwischen Henninger, Bitburger und Licher. Er nahm sich das Bit – Bitte ein Bit! – und entfernte den Deckel mit dem Öffner, der an einer Kordel am Griff baumelte. Noch auf dem Weg zum braunen Ledersofa benetzten die ersten Tropfen seinen staubtrockenen Gaumen.
„Aaah, lecker“, entfuhr es ihm nach den ersten Schlucken. Herr Schweitzer ließ seinen Blick durchs Zimmer wandern. Schau einer an, hier hatten sich also Dora, Sebastian und wer weiß wer noch – vielleicht die ganze Clique um sie herum – ihren ganz persönlichen Freiraum geschaffen. Ob der Laden wohl offiziell angemeldet war? Und auf wen lief der Mietvertrag, wenn es überhaupt einen gab? Vielleicht war es auch ausschließlich Sebastians geheime Zweitwohnung, von der sein Onkel nichts wusste, denn Dora Rutke hatte gestern Nachmittag ja ganz offensichtlich keinen Schlüssel gehabt. Oder bloß vergessen? Fragen über Fragen, mit denen sich später die Kripo beschäftigen konnte. Herr Schweitzer fand, er habe genug geleistet, indem er diesen Schuppen überhaupt ausfindig gemacht hatte.
Viel zu schnell war sein Bier leer. Er holte sich ein frisches und lümmelte sich wieder ins Sofa. Jemand hatte vergessen, die Musikanlage auszuschalten, wie er anhand der roten Leuchtdioden erkannte, deren Schrift im gleichmäßigen Abstand über die Anzeige flackerte. Herr Schweitzer stand auf und drückte auf Play. Besser, er hätte vorher das Volume gedrosselt, denn ein apokalyptisches Donnerwetter an Basstönen zerfetzte ihm beinahe sein Trommelfeld. Erschrocken drehte er den Techno auf kaum noch hörbar.
Nach dem zweiten Bier machte sich seine Blase bemerkbar. Unter dem WC stand, kaum noch lesbar, in dünner blauer SchriftUrinentsorgungswerk. Herr Schweitzer musste lächeln. Das letzte Mal für viele Stunden. Denn was dann kam, war entschieden zu viel für sein Nervenkostüm, das bis dato weder blank lag noch angekratzt war.
Gleich nach dem Lichtanmachen gefror ihm nämlich das Blut in den Adern, sein Herz setzte aus und überhaupt – sein ganzer Körper wurde zur sprichwörtlichen Salzsäule.
In der Badewanne lag nämlich eine nicht mehr ganz frische männliche Leiche. Nicht mehr ganz frisch deshalb, weil sich schon allerlei krabbelndes Kleinstgetier in den Gesichtsöffnungen wie Mund, Nase und Augen auf Nahrungssuche begeben hatte. Die Haut hatte sich bereits verfärbt. Der Penis – deswegen männliche Leiche – hing auf ewig schlaff zwischen den Schenkeln. Der trotz des gekippten und von außen vergitterten kleinen Fensters vorherrschende Geruch ließ Herrn Schweitzers eigene Gesichtsfarbe ebenso pergamenten werden wie die des Toten. Vor der Wanne lag eine Flasche Cointreau. Kleidungsstücke befanden sich wahllos auf dem Boden und über der Toilettenschüssel. Der Kopf
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