Das Graveyard Buch
nass.«
Scarlett zögerte. Ihr Haar war schon klitschnass vom Regen. Und es war kalt.
Der Mann drückte ihr sein Handy in die Hand. Scarlett schaute es an und merkte, dass sie mehr Angst davor ha t te, ihre Mutter anzurufen, als ins Auto zu steigen. Schlie ß lich sagte sie: »Ich könnte auch die Polizei anr u fen.«
»Aber sicher. Oder zu Fuß nach Hause gehen. Oder deine Mutter anrufen und sie bitten, dich abz u holen.«
Scarlett setzte sich auf den Beifahrersitz und machte die Tür zu. Sie hielt immer noch das Handy des Mannes in der Hand.
»Wo wohnst du?«, wollte er wissen.
»Sie müssen mich wirklich nicht nach Hause bri n gen. Sie können mich an der nächsten Bushaltestelle abse t zen …«
»Ich fahre dich nach Hause. Adresse?«
»Acacia Avenue 102a. Eine Seitenstraße, ein Stück hinter dem großen Sportzentrum …«
»Da bist du aber ziemlich weit vom Weg abgeko m men. Gut. Fahren wir dich nach Hause.« Er löste die Handbremse, wendete und fuhr den Hügel hinunter.
»Wohnst du schon lange hier?«, fragte er.
»Nein, eigentlich nicht. Wir sind kurz nach Weihnac h ten hier eingezogen. Aber wir haben hier schon einmal gewohnt, als ich fünf Jahre alt war.«
»Täusche ich mich oder hast du einen Dialekt?«
»Wir haben zehn Jahre in Schottland gelebt. Da hab ich mich angehört wie alle anderen auch, aber hier fall ich auf wie ein bunter Hund.« Sie wollte, dass es klang wie ein Witz, aber es stimmte, sie merkte es selbst, als sie es sagte. Das war nicht komisch, es war nur traurig. Der Mann fuhr bis zur Acacia Avenue, parkte vor dem Haus und bestand darauf, bis an die Haustür mitzukommen. Als die Tür aufging, sagte er: »Es tut mir furchtbar leid, aber ich war so frei, Ihre Tochter nach Hause zu bringen. Ganz richtig haben Sie ihr beigebracht, dass sie nicht zu Fremden ins Auto steigt. Aber schauen Sie, es hat gere g net, sie hat den falschen Bus genommen und ist am and e ren Ende der Stadt gelandet. Ziemlicher Schlamassel, das Ganze. Ob Sie wohl die Güte hätten, Madam, ihr zu ve r zeihen und, äh, mir auch?«
Scarlett machte sich darauf gefasst, dass ihre Mutter sie beide ausschimpfen würde, und war übe r rascht und erleichtert, als ihre Mutter nur sagte, man könne ja heu t zutage gar nicht vorsichtig genug sein. Ob Mr Äh Lehrer sei und ob er eine Tasse Tee wolle?
Mr Äh stellte sich vor, sein Name sei Frost, aber sie könne ihn Jay nennen, und Mrs Perkins lächelte und meinte, er solle sie Noona nennen und sie werde jetzt das Teewasser aufsetzen.
Beim Tee erzählte Scarlett ihrer Mutter das nachmi t tägliche Abenteuer mit dem falschen Bus und wie sie auf dem Friedhof gelandet war und wie sie Mr Frost getro f fen hatte dort bei der kleinen Kirche …
Mrs Perkins fiel die Teetasse aus der Hand.
Da sie am Küchentisch saßen, fiel die Tasse nicht sehr tief und sie zerbrach auch nicht, es gab nur eine kleine Teepfütze. Mrs Perkins entschuldigte sich u m ständlich, holte einen Lappen aus der Spüle und wischte den ve r schütteten Tee auf.
»Der Friedhof auf dem Hügel«, fragte sie, »in der Al t stadt? Meinen Sie den?«
»Ich wohne dort in der Nähe«, sagte Mr Frost. »Hab dort schon viele Grabsteine aufpoliert. Wissen Sie e i gentlich, dass es sich offiziell um ein Naturschutzgebiet ha n delt?«
»Ich weiß«, sagte Mrs Perkins schmallippig. Dann fuhr sie fort: »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie Scarlett nach Hause gebracht haben, Mr Frost.« Jedes Wort war so kalt wie Eis. »Ich glaube, Sie sollten jetzt g e hen.«
»Oh, das ist ein bisschen happig«, sagte Frost li e benswürdig. »Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen. Habe ich irgendetwas Falsches gesagt? Das Abni b beln mache ich für ein Projekt zur Stadtgeschichte. Ich budd e le keine Knochen aus oder so.«
Im ersten Augenblick dachte Scarlett, ihre Mutter würde den ganz zerknirscht aussehenden Mr Frost oh r feigen. Aber dann schüttelte Mrs Perkins nur den Kopf und sagte: »Ach, entschuldigen Sie, das ist eine Famili e n sache. Ist nicht Ihre Schuld.« Und in bemüht munt e rem Ton fügte sie hinzu: »Sie müssen wissen, dass Sca r lett immer auf diesem Friedhof gespielt hat, als sie noch klein war. Das ist jetzt zehn Jahre her. Sie hatte auch e i nen Freund, den es nur in ihrer Fantasie gab. Einen kle i nen Jungen, er hieß Nobody.«
Ein Lächeln spielte um Mr Frosts Lippen.
»Ein kleiner Geist?«
»Nein, ich glaube nicht. Er lebte einfach dort auf dem Friedhof. Sie hat uns sogar das Grab gezeigt, wo er zu
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