Das Graveyard Buch
der früher sein bester Freund gewesen war, war nun vier, fünf Jahre jünger als Bod. Wenn sie sich jetzt trafen, hatten sie nicht mehr viel miteinander zu reden. Thackeray Porringer hatte Bods Größe und Alter und schien besser zu ihm zu passen. Abends ging er mit Bod spazieren und erzäh l te ihm, wie schlimm es seinen Freunden ergangen war. Meist endeten seine Geschichten damit, dass die Kameraden, irrtümlich und ohne etwas Böses getan zu haben, gehängt wurden. Manchmal ve r bannte man sie aber auch einfach in die amerikanischen K o lonien, was ihnen den Galgen ersparte, solange sie nicht wieder zurückkamen.
Mit Liza Hempstock, die in den letzten sechs Jahren Bods Freundin gewesen war, nahm es eine andere We n dung. Wenn Bod zum abseits gelegenen Teil des Frie d hofs kam, wo die Brennnesseln wucherten, traf er sie immer seltener an, und wenn sie einmal doch da war, war sie kurz angebunden, streitsüchtig und oft ausg e sprochen grob.
Bod sprach mit Mr Owens darüber und sein Vater gab ihm nach kurzem Überlegen zur Antwort: »So sind die Frauen, denke ich. Sie mochte dich als kle i ner Junge, jetzt weiß sie wahrscheinlich nicht, was sie von dir halten soll, jetzt, wo du ein junger Mann bist. Ich habe früher jeden Tag mit einem kleinen Mä d chen am Ententeich gespielt. Eines Tages, ich war u n gefähr in deinem Alter, hat sie mir einen Apfel an den Kopf geworfen und kein Wort mehr mit mir geredet, bis ich siebzehn war.«
Mrs Owens schnaubte und sagte schroff: »Es war eine Birne, die ich geworfen habe. Und ich habe zie m lich bald wieder mit dir geredet, nämlich als wir miteinander g e tanzt haben, auf der Hochzeit von deinem Vetter Ned, und das war zwei Tage nach deinem sechzehnten G e burtstag.«
»Aber natürlich, Liebling, du hast recht«, sagte Mr Owens. Er zwinkerte Bod zu und bedeutete ihm, dass es nicht ernst gemeint war. Mit den Lippen formte er dann das Wort »siebzehn«, um zu zeigen, dass es wirklich stimmte.
Bod hatte sich keine Freundschaften mit den Lebe n den erlaubt, denn sie brachten ihm Schwierigke i ten, wie er aus leidvoller Erfahrung während seiner kurzen Schu l zeit wusste. Aber er hatte Scarlett in E r innerung behalten, sie fehlte ihm noch lange, nac h dem sie weggezogen war, bis er sich damit abgefunden hatte, dass er sie nie wi e ders e hen würde. Und jetzt war sie auf seinem Friedhof gewesen und er ha t te sie nicht erkannt …
Er drang tiefer in das Dickicht aus Bäumen, G e sträuch und Efeu vor, das die nordwestliche Ecke des Friedhofes so gefährlich machte. Schilder warnten die Friedhofsb e sucher, diesen Bereich nicht zu betreten, doch Schilder waren gar nicht nötig. Gleich am Ende der Ägyptischen Allee mit ihren pseudo-ägyptischen Grabmauern hatte die Natur seit über hundert Ja h ren den Friedhof erobert. Hier begann der Efeudschungel, Grabsteine waren u m gekippt, die Gräber verwahrlost oder einfach mit einer fünfzig Jahre alten Laubschicht bedeckt. Wege verloren sich oder waren nicht mehr begehbar.
Bod ging vorsichtig weiter. Er kannte die Gegend und wusste, wie gefährlich es hier war.
Mit neun Jahren hatte Bod genau hier Streifzüge u n ternommen, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen nachgegeben hatte und er in ein fast sechs M e ter tiefes Loch gefallen war. Das Grab war sehr tief ausgehoben worden, um vielen Särgen Platz zu bi e ten, aber es gab keinen Grabstein und nur einen Sarg, in dem ein leicht reizbarer ehemaliger Arzt namens Carstairs zur letzten Ruhe gebettet worden war. Di e ser schien sehr erfreut, dass Bod kam, und bestand darauf, Bods Handgelenk (das der sich beim Sturz an einer Baumwurzel verstaucht hatte) zu untersuchen, ehe er sich dazu überreden ließ, Hilfe zu holen.
Bod bahnte sich einen Weg durch Efeuranken, D i ckicht und tiefes Laub, wo Füchse heimisch waren und umg e stürzte Engelfiguren mit blinden Augen in den Himmel starrten, weil er dringend mit dem Dichter sprechen wol l te.
Sein Name war Nehemiah Trot und sein Grabstein inmitten von Grün trug die Inschrift
Hier ruhen die Gebeine von
NEHEMIAH TROT
DICHTER
1741-1774
SCHWÄNE SINGEN, BEVOR SIE STERBEN
»Meister Trot«, sprach Bod ihn an, »dürfte ich Sie um einen Rat fragen?«
Nehemiah Trot lächelte matt. »Selbstverständlich, mein Bester. Der Rat der Dichter ist die Großzügi g keit der Könige! Wie kann ich deinen Schmerz sa l ben, nein, nicht salben, wie kann ich deinen Schmerz lindem?«
»Ich habe eigentlich keine Schmerzen. Ich habe,
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