Das Graveyard Buch
der beiden wusste eine Antwort. »Er war noch nie so lange weg«, stellte Mr Owens fest. »Und dabei hat er uns versprochen, als das Kind zu uns kam, dass er da sein würde oder dass irgendjemand anderes da sein wü r de, um sich mit uns zusammen um das Kind zu kü m mern. Er hat es versprochen .«
»Ich mache mir Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte«, sagte Mrs Owens. Sie schien den Tr ä nen nah, aber dann wurde sie wütend. »Das ist doch unerhört von ihm! Gibt es denn keine Möglichkeit, ihn ausfindig zu machen und ihn zurückzuholen?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Josiah Worthington. »Aber bestimmt hat er in der Krypta Geld für Lebensmi t tel für den Jungen hinterlegt.«
»Geld!«, rief Mrs Owens. »Wozu denn Geld?«
»Bod wird Geld brauchen, wenn er sich da draußen etwas zu essen kaufen muss«, sagte Mr Owens, aber se i ne Frau fauchte ihn an:
»Ihr seid alle herzlos, einer wie der andere!«
Sie verließ die Grabstätte Worthington und suchte i h ren Sohn, den sie, wie sie erwartet hatte, oben auf der Anhöhe antraf. Er schaute hinunter auf die Stadt.
»’nen Penny für deine Gedanken«, sagte Mrs Owens.
»Du hast keinen Penny«, erwiderte Bod. Er war jetzt vierzehn und größer als seine Mutter.
»Ich habe zwei Penny im Sarg«, sagte Mrs Owens. »Wahrscheinlich haben sie Grünspan angesetzt, aber es sind immer noch meine.«
»Ich habe über die Welt da draußen nachgedacht«, sagte Bod. »Woher wissen wir überhaupt, dass derj e nige, der meine Familie umgebracht hat, noch lebt? Dass er irgendwo da draußen ist?«
»Silas sagt das«, sagte Mrs Owens.
»Aber er erzählt uns nichts weiter.«
»Er will doch nur dein Bestes. Das weißt du.«
»Danke«, sagte Bod, unbeeindruckt. »Also, wo ist er?« Mrs Owens gab keine Antwort darauf.
»Du hast den Mann gesehen, der meine Familie u m gebracht hat, oder«, sagte Bod. »An dem Tag, als ihr mich zu euch genommen habt.«
Mrs Owens nickte.
»Wie sah er aus?«
»Ich hatte fast nur Augen für dich. Aber warte mal … er hatte schwarze, pechschwarze Haare. Und er machte mir Angst. Er hatte ein hartes Gesicht. Gleichzeitig gierig und zornig war er. Silas hat ihn hinauskomplimentiert.«
»Warum hat Silas ihn nicht einfach umgebracht?«, fragte Bod erbittert. »Er hätte ihn gleich umbringen so l len damals.«
Mrs Owens berührte Bods Hand mit ihren kalten Fi n gern. »Er ist kein Ungeheuer, Bod«, sagte sie.
»Wenn Silas ihn damals umgebracht hätte, wäre ich jetzt sicher und könnte überall hingehen.«
»Silas weiß darüber mehr als du, mehr als jeder von uns. Er kennt das Leben und den Tod. So einfach ist das nicht.«
Bod ließ nicht locker. »Wie hieß er eigentlich? Der Mann, der sie umgebracht hat.«
»Er hat es nicht gesagt. Damals.«
Bod legte den Kopf schief und sah sie mit Augen an, so grau wie eine Gewitterwolke. »Aber du weißt es, oder?«
»Du kannst nichts tun, Bod«.
»Doch. Ich kann lernen. Ich kann alles lernen, was ich wissen muss. Ich habe gelernt, was Ghulpforten sind, ich habe das Traumwandeln gelernt. Miss L u pescu hat mich gelehrt, die Sterne zu beobachten. S i las hat mich gelehrt zu schweigen. Ich kann Me n schen heimsuchen. Ich kann mich unsichtbar machen. Ich kenne jeden Quadratzent i meter auf diesem Friedhof.«
Mrs Owens legte ihrem Sohn die Hand auf die Schu l ter. »Eines Tages«, begann sie, dann zögerte sie. Eines Tages würde sie ihn nicht mehr berühren kö n nen. Eines Tages würde er sie verlassen. Eines Tages. Und dann sagte sie: »Silas hat mir erzählt, der Mann, der deine Familie u m gebracht hat, heißt Jack.«
Bod blieb still. Dann nickte er. »Mutter?«
»Was gibt es, mein Sohn?«
»Wann kommt Silas wieder?«
Der mitternächtliche Wind war kalt und er kam von Norden.
Mrs Owens war nicht mehr wütend. Sie hatte Angst um ihren Sohn. »Wenn ich das wüsste, mein Junge. Wenn ich das wüsste.«
Scarlett Amber Perkins war fünfzehn und gerade saß sie auf dem Oberdeck eines altmodischen Autobusses und kochte vor Wut und Hass. Sie hasste ihre Eltern, weil sie sich getrennt hatten. Sie hasste ihre Mutter, weil sie von Schottland weggezogen war, und sie has s te ihren Vater, weil es ihm egal zu sein schien, dass sie fort war. Sie has s te diese Stadt, weil sie ganz anders war – überhaupt nicht wie Glasgow, wo sie aufg e wachsen war –, und sie hasste sie auch, weil sie immer wieder Stellen sah, wo ihr plöt z lich vieles schmerzlich vertraut und bekannt vo r kam.
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