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Das Graveyard Buch

Titel: Das Graveyard Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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diesem Morgen hatte sie sich mit ihrer Mutter g e stritten. »In Glasgow hatte ich wenigstens Freu n de!«, sagte Scarlett vorwurfsvoll und den Tränen nah. »Die sehe ich jetzt nie wieder!« Doch ihre Mutter antwortete nur: »Wenigstens bist du irgendwo, wo du früher schon mal warst. Wir haben hier gewohnt, als du klein warst.«
    »Daran erinnere ich mich nicht«, sagte Scarlett. »Und außerdem kenne ich ja niemanden mehr. Soll ich etwa meine alten Freunde aus dem Sandkasten aufspüren? Willst du das?«
    Worauf ihre Mutter sagte: »Ich hindere dich nicht da r an.«
    Den ganzen Schultag lang war Scarlett wütend gew e sen und auch jetzt fühlte sie sich nicht besser. Sie hasste die Schule, sie hasste die ganze Welt und in diesem A u genblick hasste sie besonders den städtischen Busve r kehr.
    Jeden Tag nach der Schule nahm sie den 97er-Bus ins Stadtzentrum, der sie bis ans Ende der Straße brachte, wo ihre Mutter eine kleine Wohnung gemietet hatte. An di e sem stürmischen Apriltag hatte sie fast eine halbe Stunde vergeblich auf den 97er gewa r tet, und als sie einen 121er mit Stadtzentrum auf der Anzeigetafel sah, stieg sie ein. Doch da, wo ihr Bus immer nach rechts abbog, bog di e ser nach links ab in die Altstadt, vorbei an den städt i schen Anlagen, an der Statue des Sir Josiah Worthington, und kroch dann an hohen Häusern vorbei den Hügel hi n auf. Scarlett sank der Mut und statt Wut empfand sie nun Traurigkeit.
    Sie stieg nach unten, quetschte sich durch den Gang, sah das Schild mit dem Hinweis, während der Fahrt nicht mit dem Fahrer zu sprechen, und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, ich wollte zur Acacia Av e nue.«
    Die Fahrerin, eine dicke Frau, die noch dunkelhä u tiger war als Scarlett, gab ihr die Auskunft, dass sie den 97er hätte nehmen müssen.
    »Aber der Bus hier fährt doch auch ins Stadtze n trum.«
    »Ja, schon. Aber wenn du dann da bist, musst du noch ein ganzes Stück wieder zurückgehen.« Die Frau seufzte. »Am besten steigst du gleich hier aus und gehst vom bis zur Haltestelle gegenüber dem Rathaus. Da hält der 4er oder der 58er; die bringen dich beide ziemlich nah an die Acacia Avenue. Du steigst beim Sportzentrum aus und gehst von da den Rest zu Fuß. Alles klar?«
    »Den 4er oder den 58er.«
    »Ich lass dich hier raus.« Es war eine Bedarfshalteste l le an der Anhöhe, unweit eines großen schmiedee i sernen Tors, und sie sah abweisend und düster aus. Scarlett stand unschlüssig in der offenen Bustür, bis die Fahrerin sagte: »Los. Mach schon.« Sie trat auf den Bürgersteig und der Bus, schwarzen Dieselrauch aus hustend, fuhr mit Getöse davon.
    Der Wind schüttelte die Bäume auf der anderen Seite der Umfriedungsmauer.
    Scarlett machte sich auf den Weg hügelan. Genau deswegen brauchte sie ein Handy, dachte sie. Wenn sie auch nur fünf Minuten später kam, flippte ihre Mutter immer gleich aus, aber sie kaufte ihrer Toc h ter trotzdem kein eigenes Handy. Oh ja, sie sah schon dem nächsten Zoff mit der Mutter entgegen. Es wäre nicht der erste und sicherlich auch nicht der letzte.
    Jetzt war sie auf Höhe des Tors. Sie schaute durch das offene Gitter hinein und …
    »Merkwürdig«, sagte sie laut.
    Es gibt einen Ausdruck, Dejà-vu , der das Gefühl b e schreibt, dass man an einem Ort schon einmal war, dass man schon einmal davon geträumt oder ihn sich vorg e stellt hat. Scarlett kannte das. Sie hatte zum Beispiel g e nau gewusst, dass eine Lehrerin gleich d a von erzählen würde, dass sie die Ferien in Inverness verbracht hatte. Oder sie wusste, dass jemand genau so schon einmal e i nen Löffel hatte fallen lassen. Doch das hier war anders. Diesmal hatte sie nicht bloß das Gefühl, dass sie schon einmal hier gewesen war. Es war wirklich.
    Scarlett schritt durch die offene Pforte in den Friedhof. Eine Elster flog auf, als sie hineinging, ein schwarzwe i ßes Blitzen über schillerndem Grün, setzte sich auf einen Eibenzweig, von wo aus sie Scarlett beobachtete. Hinter der nächsten Wegbiegung ist eine Kirche, dachte Sca r lett, und davor steht eine Bank. Sie bog um die Ecke und sah die Kirche – viel kleiner als in ihrer Vorstellung, ein dü s terer gotischer Bau aus grauem Stein und mit einem Turm. Davor stand eine verwitterte Holzbank. Sie ging hinüber, setzte sich auf die Bank und ließ die Beine ba u meln, als wäre sie noch immer ein kleines Mädchen.
    »Hallo, äh, hallo«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Wirklich dreist von mir, aber könntest du mir he l fen, das

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