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Das Graveyard Buch

Titel: Das Graveyard Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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na ja, da ist ein Mädchen, mit dem ich früher bekannt war, und ich weiß nicht, ob ich zu ihr gehen und mit ihr reden oder ob ich sie lieber vergessen soll.«
    Nehemiah Trot richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die übrigens nicht an die von Bod heranreichte, legte erregt die Hände an die Brust und sagte: »Oh, du musst zu ihr gehen und sie anflehen. Nenne sie deine Terps i chore, deine Echo, deine Klytämnestra. Du musst G e dichte für sie schreiben, erhabene Oden – ich werde dir dabei helfen –, und so und nur so wirst du das Herz de i ner Liebsten erobern.«
    »Ihr Herz brauche ich eigentlich nicht zu erobern«, sagte Bod. »Sie ist auch nicht meine Liebste, sondern einfach jemand, mit dem ich gern reden würde.«
    »Von allen Organen«, sagte Nehemiah, »ist die Zunge das erstaunlichste. Denn mit ihr schmecken wir den lie b lichen Wein und das bittere Gift und gleichermaßen fo r men wir mit ihr süße und gallige Wo r te. Geh zu ihr! Sprich mit ihr!«
    »Ich weiß nicht recht.«
    »Du musst, mein Junge. Du musst! Ich werde da r über dichten, wenn die Schlacht gewonnen oder ve r loren ist.«
    »Aber wenn ich mich für einen Menschen sichtbar mache, macht es das anderen leichter, mich zu sehen …«
    »Ah, höre, junger Leander«, sagte Nehemiah Trot, »junger Hero, junger Alexander. Wer nichts wagt, der hat, wenn der Tag vorüber ist, auch nichts g e wonnen.«
    »Das leuchtet ein.« Bod war mit sich selbst zufri e den und froh, dass er den Dichter um Rat gefragt ha t te. Denn, so dachte er, wenn man nicht einmal Ve r trauen in den Rat eines Dichters hat, wem will man dann überhaupt vertrauen? Das brachte ihn auf etwas anderes …
    »Mister Trot?«, fragte Bod erneut, »was halten Sie von Rache?«
    »Ein Gericht, das man am besten kalt serviert«, sagte Nehemiah Trot. »Man übe sie nicht im Eifer des G e fechts. Stattdessen warte man auf die Gunst der Stunde. Es gab da mal einen Schmierfinken namens O’Leary, einen Iren, darf ich hinzufügen, der die Stirn hatte, die bodenlose Frechheit, meinen ersten schmalen Gedich t band Ein Sträußchen Schönheit für den feinen Herrn als minderwertige Knittelverse ohne irgendeinen literar i schen Anspruch zu bezeichnen; das Papier, auf dem sie geschrieben waren, verwende man am besten als – nein, ich kann es nicht ausspr e chen. Einigen wir uns einfach darauf, dass es ein ä u ßerst vulgäres Wort war.«
    »Aber Sie haben Ihre Rache bekommen«, fragte Bod neugierig.
    »An ihm und an seiner ganzen abscheulichen Brut! Oh, ich habe meine Rache bekommen, junger Freund, und zwar eine schreckliche. Ich schrieb einen Brief und heftete ihn an die Türen der Londoner Sp e lunken, wo solche Schreiberlinge gewöhnlich anz u treffen waren. Darin legte ich dar, dass ich angesichts der Zartheit des poetischen Genies fortan nicht mehr für das niedere Pu b likum, sondern nur noch für mich selbst und für die Nachwelt dichten werde, und dass ich, solange ich lebe, keine Gedichte mehr veröffentlichen werde – für sie. Und so habe ich testamentarisch verfügt, dass nach me i nem Tode alle meine Gedichte mit mir zusammen begr a ben werden sollten, unverö f fentlicht. Erst wenn die Nachwelt mein Genie e r kannt, wenn sie begriffen haben würde, dass Hunde r te von meinen Versen verloren, ja verloren waren, erst dann sollte mein Sarg exhumiert und geöffnet werden, erst dann würden die Gedichte meinen kalten, toten Händen entrissen und zur Freude und u n ter dem Beifall aller veröffentlicht werden. Es ist eine schreckl i che Sache, wenn man seiner Zeit voraus ist.«
    »Und nachdem Sie gestorben waren, hat man Sie au s gebuddelt und Ihre Gedichte gedruckt?«
    »Noch nicht. Aber es ist ja noch viel Zeit. Die Nac h welt ist ein weites Feld.«
    »Also … das war Ihre Rache?«
    »Ganz recht. Und eine machtvolle und listige obe n drein.«
    »Ah ja«, sagte Bod, nicht sehr überzeugt.
    »Am besten – kalt – serviert«, sagte Nehemiah Trot stolz.
    Bod verließ den Urwald des nordwestlichen Teils und ging auf der Ägyptischen Allee zurück in den gepflegt e ren Teil des Friedhofes. Als es dunkel wurde, begab er sich zu der alten Kapelle – nicht weil er hof f te, Silas sei von seinen Reisen zurückgekehrt, sondern weil er in se i nem bisherigen Leben immer bei Einbruch der Dunke l heit in die Kapelle gekommen war, und es war gut, einen Rhythmus zu haben. Außerdem hatte er Hunger.
    Bod schlüpfte durch die Tür der Krypta und stieg hi n ab. Er schob einen Pappkarton mit

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