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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Erkenntnisse, Visionen ihrer Gestalt und ihres Charakters, und er saß da und meinte ihren Puls zu spüren. Die Tage flogen dahin, waren voll und reich wie die Landschaften, die sie zu Gesicht bekamen, und ihre Erlebnisse waren wie Nachrichten an jenen Teil ihrer selbst, die sie noch nicht kannten.
    Sie gerieten in Regenstürme, wie sie noch keine erlebt hatten, um sich eine Stunde darauf vor der Gluthitze in klimatisierten Inns zu verkriechen, und das war eine Botschaft. Sie waren dabei, als eine Frau nach einem Unfall auf der Straße verblutete und ihr Ehemann in seiner Verzweiflung gegen ein Auto trat, bis ihn die Polizisten festnahmen, und das war eine Botschaft. Sie machten eine dreitägige Wanderung durch einen Nationalpark, schliefen dabei in ihren Schlafsäcken auf dem blanken Erdboden, vor den Wildtieren nur durch ein kleines Lagerfeuer geschützt, und das war eine Botschaft. Sie besuchten Rodeos, Viehversteigerungen, Autorennen und die Tatorte berüchtigter Verbrechen, so wie das Haus einer sechsköpfigen Familie, die von einem Nachbarn im Jahr davor auf grausame Weise ausgerottet worden war, und all das waren Botschaften. Er wusste es, er verstand sie nur noch nicht, doch das machte nichts. Eines Tages würde er sie verstehen.
     
    Die Schularbeiten, die ihnen die Lehrer mitgegeben hatten und die für die gesamte Reise gedacht waren, hatten sie schon nach einer Woche erledigt, und um sich auf den ausgedehnten Fahrten die Zeit zu vertreiben, besorgten sie sich alle paar Tage in den größeren Städten neue Bücher, die sie während der Fahrt am Esstisch lasen und miteinander diskutierten.
    »Wofür sind Sie eigentlich mit von der Partie?« rief Zach in den Rückspiegel. »Die beiden brauchen Sie ja nun wirklich nicht!«
    »Sie aber ganz bestimmt auch nicht!« rief Mrs. Hunt.
    »Ich bin immerhin fürs Fahren zuständig!«
    »Können wir«, sagte Werner leichthin.
    »Na ganz bestimmt«, sagte Zach. »Ihr langt nicht mal an die Pedale.«
    Werner legte sein Buch zur Seite und ging nach vorne.
    »Fahr rechts ran.«
    Zach gehorchte, räumte den Fahrersitz und zwinkerte Werner zu. Dieser fuhr die nächste halbe Stunde, dann übernahm Jonas. Währenddessen hielt Zach die protestierenden Frauen in Schach. Picco saß daneben, schaute aus dem Fenster und sagte kein Wort.
     
    Jenen geheimnisvollen Drang, Dinge zu tun, deren Sinn er selbst nicht ergründen konnte, hatte Jonas schon lange Zeit verspürt, im Grunde erinnerte er sich gar nicht, diese Gedanken einmal nicht gehabt zu haben, doch er schreckte seit jeher davor zurück, sie in die Tat umzusetzen, weil er ahnte, dass er damit eine Grenze überschreiten würde. Auf dieser Reise nun, irgendwo mitten in Amerika, brach der Drang erneut hervor, und Jonas fühlte mit zuvor ungekannter Klarheit, dass er ihm nachgeben musste, einfach um zu erfahren, was es bedeutete, diese Sehnsucht nach dem Un-Sinn, dieser Wunsch nach Heimkehr in die Zwecklosigkeit.
    Einen gleichmäßig surrenden Ventilator über sich, schrieb er in der Cafeteria eines Campingplatzes Postkarten an Freunde und Bekannte. Auch an seine Mutter adressierte er eine. Er vermisste sie, aber er dachte nicht lange darüber nach, weil ihm gleich die Tränen hochstiegen.
    Eine Karte blieb ihm übrig.
    Er ging noch einmal alle Gesichter durch. Wem sollte, wem wollte er eine Karte senden? Es fiel ihm beim besten Willen niemand mehr ein.
    Im nächsten Moment schrieb er seinen eigenen Namen und die Adresse auf die Karte. Von einem Notizblock schnitt er Papierstreifen gleicher Größe ab. Auf die Streifen notierte er:
    einen Fernseher in seine Bestandteile zerlegen und wieder zusammenbauen
    im Supermarkt klauen und sich erwischen lassen
    auf dem Friedhof übernachten
    eine Zeitung gründen
    eine Flasche Olivenöl trinken
    ein fünfgängiges Menü für sechs Personen kochen
    Japanisch lernen
    das eigene Bett anzünden
    ein zwei Meter tiefes Loch im Garten graben
    den Beruf des Tischlers erlernen
    Zach im Schlaf mit einem wasserfesten Stift einen Hitlerbart aufmalen
     
    An der Rezeption besorgte er sich Klebstoff. Er mischte die Papierstreifen durch, wählte mit geschlossenen Augen einen aus und klebte ihn auf die letzte Postkarte, die er in den Stapel der bereits geschriebenen schob. Die übrigen Streifen vernichtete er, ohne hinzusehen. Als er die Karten in die Klappe des Briefkastens am Empfangsschalter steckte, bekam er Gänsehaut. Ein Schauer durchfuhr ihn. Er schloss die Augen.
    Erinnere dich, dachte er, behalte

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