Das größere Wunder: Roman
dreißig? Das ist ja grässlich!«
»Woher wollen wir das wissen? Wir haben es noch nie gemacht. Vielleicht ist das auch in Ordnung, wenn man alt ist.«
»Also wenn ich mir das vorstelle …«
»Man muss sich ja nicht alles vorstellen.«
»Doch!« rief Werner. »Ich muss mir immer alles vorstellen! Alles! Das ist echt kein Spaß, glaub mir!«
»Na ja, stimmt eigentlich«, sagte Jonas. »Ich muss mir auch immer alles vorstellen. Aber in diesem Fall – ich meine, da muss man wegdenken, da muss man seine Gedanken eben kontrollieren.«
»Was redest du denn da? Hast du wieder diesen Zen-Quatsch gelesen?«
»Komm schon. Wir mögen die beiden, also können wir tolerieren, dass sie steinalt sind.«
»Das toleriere ich ja! Aber das andere verstehe ich nicht.«
»Ich habe es noch nie gemacht«, sagte Jonas, »doch ich bin mir jetzt schon sicher, dass es am Sex nicht viel zu verstehen gibt.«
»Tja. Sieht ganz so aus.«
Eines Tages rollten sie wieder durch eine jener gesichtslosen Kleinstädte, die besonders Zach aus unklaren Gründen liebte, als plötzlich Picco am Straßenrand auftauchte, eine Zeitung lesend und einen Koffer neben sich.
Zach drehte die Lautstärke des Radios zurück und stieg so heftig auf die Bremse, dass Mrs. Hunt mitsamt dem Vorhang, an dem sie sich festhalten wollte, durch das Wohnmobil kollerte. Picco stieg ein, umarmte die Jungen, tippte sich beim Anblick von Jonas’ Verband gegen die Stirn, begrüßte alle anderen mit einem zurückhaltenden Lächeln und einem Händedruck. Ohne ein weiteres Wort setzte er sich auf den Beifahrersitz. Eine Zeitlang sagte niemand etwas.
»Woher kommst du?« fragte Werner schließlich.
»Vom Planeten Erde.«
»Sehr witzig. Seid wann bist du hier?«
»Na seit eben!«
»Ich meine, wie bist du hergekommen?«
»Zu Fuß.«
»Ach, shut up«, sagte Werner, und Picco zerzauste ihm die Haare.
Der Boss sah anders aus als beim Abschied am Flughafen. Sein Gesicht war fahl, die Falten schienen tiefer geworden zu sein. Er war ernster, starrte aus dem Fenster, tagein, tagaus, egal wohin sie fuhren, egal was sie sahen, egal was im Wohnmobil vor sich ging. Dabei hatte Jonas nicht das Gefühl, als entziehe er sich ihnen bewusst, es war vielmehr, als hindere ihn etwas daran, Anteil am Leben zu nehmen.
Eine Woche nachdem er zu ihnen gestoßen war, studierte Picco im Supermarkt mit hochgeschobener Brille und zusammengekniffenen Augen das Etikett einer Konservendose. Neben ihm stoppte Jonas den Einkaufswagen.
»Wieso gehst du eigentlich einkaufen, Boss?« fragte Jonas.
»Was meinst du? Und sag nicht Boss zu mir.«
»Du hast so viel Geld, du könntest das andere für dich erledigen lassen. Zach zum Beispiel, der da draußen auf der Bank in der Sonne sitzt, oder Regina. Oder Werner und mich. Wieso machst du es selbst? Welcher Millionär kauft denn selbst ein?«
Picco stellte die Dose zurück ins Regal.
»Ich will dir etwas sagen. Gleichgültig, wie viel Geld du auf der Bank hast, es ist immer wichtig, den Dingen des täglichen Lebens Zeit zu schenken. Einkaufen, putzen, kochen, diesen Tätigkeiten musst du immer wieder nachgehen, auch wenn du hundert Restaurants kaufen könntest.«
»Und warum?«
»Weil du sonst irgendwann die Welt verlierst.«
Picco nahm die Dose wieder aus dem Regal und hielt sie sich dicht vor die Augen.
»Du wirkst auf mich momentan wie jemand, der die Welt verloren hat«, sagte Jonas.
»Ich sehe bloß schlecht. Schau mal, ob du das Ablaufdatum findest. Man wird oft mit alten Waren betrogen.«
»Ich rede nicht von einem Ablaufdatum.«
»Ich schon.«
»Wie? Was meinst du?«
»Antworten werden überschätzt«, sagte Picco.
Er stellte die Konservendose zurück ins Regal und rollte den Einkaufswagen ohne ein weiteres Wort zur Kasse.
Den Rest des Tages verbrachte Jonas in seiner Schlafkoje oberhalb der Fahrerkabine, zurückgezogen in seine Bücher und für niemanden ansprechbar. Unter ihm sang Zach zur Musik aus dem Autoradio:
»Love! Is a burning thing! And it makes! A fiery ring!«
»Shut up«, rief Mrs. Hunt.
Es war die längste Reise, die die Jungen bis dahin unternommen hatten, und Jonas lernte, dass Reisen an sich eine Form von Kommunikation sein konnte, Kommunikation mit sich selbst und mit der Welt in ihrer Gesamtheit. Gedanken drängten in ihm hervor, für die er blind gewesen war, Gefühle erreichten ihn, die längst dagewesen waren, die er nur nicht zugelassen hatte. Die Welt schickte ihm Ideen, Eindrücke,
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