Das größere Wunder: Roman
gedrückt hatte.
»Du glaubst aber nicht im Ernst, dass ich das esse, oder?«
»Wenn du klug bist, machst du es.«
Jonas kostete. Es schmeckte wie eine Mischung aus verbrannter Milch und verdorbenem Fisch.
»Du willst mich umbringen«, stellte er sachlich fest und aß weiter.
»Was meinst du«, sagte Sam, »wird das Wetter noch mal besser?«
»Ich weiß es nicht. Die Leute ringsum halten ständig Kontakt zu ihren Meteorologen auf der ganzen Welt, die solltest du fragen.«
»Offenbar wissen die auch nicht mehr, und vor allem widersprechen sie einander. Was sagt dir dein Gefühl?«
»Mein Gefühl sagt mir, du solltest nicht so viel reden. Deine Stimme wird dauerhaft Schaden nehmen. Tut das nicht weh, dieses ständige Reden?«
»Doch, aber wenn ich nicht rede, kriege ich Schiss.«
Jonas hatte in der Nacht sogar ein wenig geschlafen und fühlte sich nicht so kraftlos wie am Vortag, doch um sich nicht zu verausgaben, legte er sich wieder ins Zelt. Auch dort war es kälter als in einer Gefriertruhe, doch war er wenigstens vor dem Wind geschützt.
Zelt.
Liegen.
Dösen.
Eine Stunde hielt er es im Zelt aus, nicht länger.
Durch das Schneegestöber wanderte er über das Plateau. Ab und zu stieß er unvermittelt auf eine Leiche. Man sah sie erst im letzten Moment, sie waren zum Teil mit Schnee, zum Teil mit Steinen bedeckt. Ihr Anblick verstörte ihn weniger, als er gedacht hatte, er fühlte nur eine irritierende Trauer beim Gedanken an die Menschen, die diese Unglücklichen zu Hause zurückgelassen hatten.
Lange stand er vor einer Frau, die auf der Seite lag, als ob sie sich gerade zum Schlafen hingelegt hätte. Sie trug einen ausgeblichenen roten Anorak und zerrissene Stiefel. Ihre Haut war unnatürlich weiß, doch ansonsten wirkte sie nicht tot. Sie wirkte auch nicht lebendig, sie war vielmehr etwas, das Jonas noch nicht gesehen hatte und dem er wenig Sympathien entgegenbrachte.
Hey, du. Wie geht’s?
Die Frau antwortete nicht.
Wind. Schnee. Einsamkeit. Das Gefühl, so fern von den Menschen zu sein wie nie zuvor.
Marc, er fehlte ihm. Marc mit seiner Zuversicht, seiner Unbekümmertheit, seiner Kraft und Unbeschwertheit, und, natürlich, mit seiner Erfahrung. Aber schließlich war Jonas ja auch allein hergekommen.
Zu Mittag packten weitere Teammitglieder ihre Sachen. Wind, Kälte, Schnee, das Warten, die Unsicherheit, die Höhe, die an ihnen fraß, etwas davon oder alles zusammen ertrugen sie nicht mehr.
Hadan blieben neun Kunden: Nina, Manuel, Tiago, Anne, Andrea, Ennio, Carla, Sam und Jonas. Diese neun bereiteten sich darauf vor, gemeinsam mit den Bergführern und den Sherpas den Nachmittag in diesem unbarmherzigen Wind zu überstehen, der Kopfschmerzen ganz eigener Art verursachte, dröhnende, ziehende, dunkelschwarze Kopfschmerzen. So wie die Expeditionen der Belgier, der Bulgaren und vieler anderer Teams warteten sie auf die Nachricht von der entscheidenden Wetterbesserung.
»Sie kommt«, sagte Alex, »ich weiß es. Heute Nacht.«
»Ich hoffe es, denn ob ich es noch eine Nacht und einen Tag aushalte, weiß ich nicht.«
»Und ich hoffe, dass uns dieser eine Tag nicht zu sehr ausgelaugt hat. Wenn wir da hochkommen, dann mit Notstrom, und vermutlich wird Hadan einige Leute zur Umkehr zwingen müssen, damit sie sich nicht umbringen.«
Jonas konnte nicht liegen und nicht sitzen, und obwohl sein Körper ihm das Gegenteil befahl, ging er umher. Geredet wurde nicht mehr viel, auch nicht unter den Sherpas. Bei allen schienen die Grenzen der körperlichen und geistigen Widerstandsfähigkeit erreicht zu sein. Nur Hadan stand unbeeindruckt in der Mitte, organisierte Transporte, kümmerte sich um die Versorgung der Lager, in denen sie beim Abstieg Halt machen würden, und sprach ständig in sein Funkgerät.
Widerwillig gehorchte Jonas seiner Aufforderung, wenigstens ein paar Löffel von der undefinierbaren Mahlzeit zu nehmen, die Mingma ihm gebracht hatte. Er besuchte erneut die Tote im roten Anorak und fragte sich, ob er richtig entschieden hatte, nicht abzusteigen.
Auf dem Rückweg fiel ihm ein Mann auf, der starr auf einem Stein saß. Nina, die gerade in der Nähe den Inhalt ihres Tellers hinter einem Felsen entsorgt hatte, bemerkte ihn offenbar im selben Moment.
»Sieh dir mal den Typen an!« schrie sie Jonas gegen den Wind zu. »Der hat ja Stielaugen!«
»Stimmt! Hast du so etwas schon mal gesehen? Kennst du ihn? Zu welcher Expedition gehört er?«
»Und er sitzt da wie ein
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