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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Katatoniker. Hallo!« Sie wedelte mit der Hand vor den Augen des Mannes, ohne dass er irgendeine Reaktion zeigte. »Keiner daheim. Würde sagen, mit dem ist etwas nicht in Ordnung.«
    »Mit dem ist etwas ganz gewaltig nicht in Ordnung«, sagte Jonas und holte Hadan.
    Als der Expeditionsleiter einen Blick auf den Mann warf, sagte er nur ein Wort:
    »Hirnödem.«
    »Woran erkennst du das?«
    »Ich bin kein Mediziner, aber erstens ist er völlig weggetreten, und zweitens vermute ich, der Druck im Kopf presst ihm die Augen heraus. Runter muss er auf alle Fälle sofort. Ich glaube, er gehört zu Todd Brooks Leuten. Passt der Kerl nicht auf sein Team auf? Hey, Todd! Komm mal her!«
    Jonas betrachtete den apathischen Mann, der auf seinem Stein saß und jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte. Es war ein unheimlicher Anblick. Seine weit hervortretenden Augen starrten ins Leere, sein massiger Körper konnte vom nächsten Windstoß umgeworfen werden, so wenig hatte er der Welt noch entgegenzusetzen.
    »Er stirbt«, sagte Jonas.
    »Er muss runter«, sagte Hadan.
     
    Eine halbe Stunde darauf war der Mann, der John hieß, als Sonderschullehrer arbeitete, drei Kinder hatte und tatsächlich zu Todd Brooks Expedition gehörte, in Begleitung von vier Sherpas auf dem Weg nach unten.
    »Wie kriegen sie den durch die Wand?« fragte Jonas.
    »Ich will darüber nicht nachdenken«, sagte Nina. »Stellst du dir auch gerade vor, du wärst das?«
    »Nein. Oder unbewusst vielleicht. Weiß nicht.«
    »Ich schon. Ich denke dann an meine Mutter und daran, dass ich ihr das nicht antun kann. Wie es jetzt wohl seiner Frau und seinen Kindern gehen muss. Man darf solche Expeditionen nur machen, wenn man ungebunden ist. Zumindest Kinder darf man nicht haben.«
    »Hast du Angst?« fragte Jonas.
    »Angst nicht, aber nervös bin ich. Und ich werde immer kraftloser.«
    »Wieso bist du noch hier? Wieso gehst du nicht runter?«
    »Jonas, ich gehe da hinauf, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
    »Und warum?«
    »Weil das alles sonst gar keinen Sinn gehabt hätte.«
     
    Zelt.
    Liegen.
    Dösen.
     
    Bekam er Fieber?
    Nein. Nein, er war nur müde.
     
    Draußen dunkel.
    Täuschte er sich, oder war wirklich kein Wind zu hören?
    Er setzte sich auf. Alles war still. Er rüttelte Andrea.
    »Wach auf! Wach auf!«
    »Glaubst du etwa, ich schlafe?«
    »Hör mal! Kein Wind!«
    »Ja! Du hast recht! Kein Wind!«
    »Wie spät ist es?«
    »Zehn.«
    »Ich frage Hadan, was jetzt ist.«
    Jonas wälzte sich zum Eingang, doch da wurde der Reißverschluss schon von außen aufgezogen.
    »Könnt ihr mich sehen?« fragte Hadan. »Wer bin ich?«
    »Clown«, sagte Andrea. »Gehen wir hoch?«
    »Nur nichts überstürzen. Wer sich stark fühlt, ich betone, wer sich stark fühlt, kann gegen Mitternacht los. Wer nicht hundertprozentig davon überzeugt ist, dass sein Körper den Strapazen, die jetzt erst so richtig anfangen, gewachsen sein wird, bleibt die Nacht über hier und steigt im Morgengrauen ab. Ihr müsst ehrlich zu euch sein.«
    »Ich gehe hoch«, sagte Andrea.
    »Ich auch«, sagte Jonas.
    »Warum wusste ich das schon?« seufzte Hadan und machte sich auf den Weg zum nächsten Zelt.
    »Fühlst du dich stark?« fragte Andrea.
    »Sehr, wie nach einem Autounfall.«
    »Ich auch. Aber ich gehe da trotzdem hinauf, und wenn mich meine Beine nicht mehr tragen, gehe ich auf den Händen weiter.«
    »Warum?« fragte er.
    Sie gab ihm keine Antwort.

55
     
    Kurz vor Mitternacht setzte Jonas die Maske auf, reichte Gyalzen, der seine Vorhut bildete, als Zeichen ihrer Verbundenheit die Hand, und sie gingen los.
    Heute ist der Tag, an dem ich auf dem Everest stehen werde.
    Heute ist allerdings vielleicht auch noch ein anderer Tag.
    Es war beinahe windstill, dennoch herrschten noch tiefere Temperaturen als an den Tagen zuvor, und schon nach einer Stunde bekam Jonas erste Schwierigkeiten mit der Durchblutung seiner Zehen. Er versuchte, sie in den Schuhen so oft wie möglich zu bewegen, aber er wusste, viel würde das nicht helfen.
    Vor ein paar Tagen hatte er sich entschieden, ein paar erfrorene Finger oder Zehen als Preis für den Gipfel zu opfern, mehr aber nicht. Sollte er sich in Lebensgefahr wähnen, würde er sofort umkehren.
    Im Kegel seiner Stirnlampe sah er das blaue, zerklüftete Eis, das unter seinen Steigeisen knirschte, und musste lachen. Was war das hier, wenn nicht höchste Lebensgefahr?
     
    Er fand rasch einen guten Rhythmus, und Gyalzen passte ihm sein Tempo an,

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