Das größere Wunder: Roman
Geist könnte es nicht.
Er ging hinter einem großen Stein in Deckung und schloss die Augen.
Werft mich die verdammte Wand runter, dachte er. Ich vergehe. Immer weniger bleibt hier von mir.
Wie lange er so hinter dem Stein gekauert hatte, wusste er nicht. Jemand rüttelte ihn heftig. Er öffnete die halb vereisten Augen und sah Mingma vor sich, der ihm eine Tasse Tee hinhielt.
»Ich kann nicht«, wollte er sagen, aber er brachte es nur zu einem Kopfschütteln.
»Trink!« schrie der Sherpa. »Trink das! Du musst das trinken!«
Jonas nahm die Tasse, doch er vergaß, was er damit sollte, bis der Sherpa nach einer Weile wiederkam und sie ihm an die Lippen führte. Der Tee war kalt. Dennoch trank Jonas alles aus, und nach der zweiten Tasse fühlte er sich so weit wiederhergestellt, dass er verfolgen konnte, was um ihn geschah.
Die meisten Mitglieder des Teams schienen angekommen zu sein. Hier lag Nina, dort lag Carla, neben ihr erbrach sich Sarah, dahinter hustete Ennio, ein wenig erinnerten sie Jonas an die Opfer eines Giftgasangriffs. Dazwischen sah er überall gelbe Anzüge, Gesichter, die ihm unbekannt waren, und ständig kamen neue dazu. Die Sherpas widmeten sich der unerfreulichen Aufgabe, die Zelte aufzustellen, und während die meisten Kunden abwesend herumsaßen, lief Hadan hin und her, erteilte Anweisungen und fasste mit an, wo es notwendig war.
»Das ist doch alles die reine Unfähigkeit!« schrie ganz in der Nähe ein Mann, den Jonas am gestreiften Anorak als Tiago erkannte. »Das ist doch der Gipfel der Unfähigkeit!«
»Aber noch nicht der Gipfel des Everest, also spar dir die Luft!« schrie Hadan zurück. »Was passt dir eigentlich schon wieder nicht?«
»Die Zelte! Wir kommen hier rauf, und es sind keine Zelte da! Wieso stehen keine Zelte, wenn wir raufkommen?«
»Weil sie längst wieder weg wären!« schrie Hadan.
Mehr hörte Jonas nicht, er sah die beiden davongehen, Tiago gestikulierend, Hadan unnahbar wie immer.
Jonas hatte kein gutes Gefühl.
Wir gehören hier nicht her, dachte er. Wir müssen schnell wieder weg.
Endlich standen einige Zelte, die zu ihrer Expedition gehörten. Nachdem er beobachtet hatte, welches Zelt Nina und Manuel ansteuerten, wählte er eines aus, das ein Stück entfernt war. Kaum hatte er sich vollständig bekleidet in einen Schlafsack gewickelt, bekam er jedoch Gesellschaft von Sarah und der Bankerin, deren Namen er sich nicht merken konnte.
Mittlerweile hatte er sich so weit erholt, dass er wieder sprechen konnte. Ihm war danach, irgendeine Unterhaltung zu führen, und mochte es nur geistloses Geplapper sein, er wollte zu den Menschen zurückkehren, er wollte unter ihnen sein und nicht dort, wo er die letzten Stunden verbracht hatte. Kaum hatte er begonnen, über den Aufstieg zu reden, platzte Sarah heraus:
»Für mich war’s das! Für mich ist hier Endstation!«
»Na, jetzt ganz ruhig«, sagte die Bankerin. »Willst du nicht zum Gipfel?«
»Der Gipfel kann mich mal! Ich will nach Hause! Ich will heim! Ich will zu meinem Papa!«
Sie brach in Tränen aus, so plötzlich und heftig, dass Jonas es ohne die Erfahrung der vergangenen Stunden wohl für Theater gehalten hätte. Doch es war mehr als das, vor seinen Augen ereignete sich ein totaler physischer und psychischer Zusammenbruch. Diese junge Frau hatte der Berg restlos überwältigt.
Jonas nahm all seine Kräfte zusammen und kroch aus dem Zelt, um Hadan zu holen. Mittlerweile wurde es dunkel, und er konnte ihn nicht finden. Er bat Lobsang, den er beim Schneeschmelzen antraf, ihm Hadan oder einen der Bergführer zu schicken, und kehrte zum Zelt zurück, wo sich Sarah gerade in den Armen der Bankerin übergeben hatte, was diese nicht daran hinderte, ihr den Kopf zu streicheln. Jonas ging wieder hinaus und riss bei Lobsang die erste Tasse Tee an sich, um sie Sarah zu bringen.
»Trink das«, sagte er zu ihr, den Tonfall nachahmend, mit dem ihm Mingma vor nicht allzu langer Zeit denselben Befehl erteilt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Die Bankerin nahm die Tasse und presste sie ihr gegen die Lippen.
»Bitte, du musst das trinken!«
Hustend drückte sich Jonas gegen Sarah, die am ganzen Körper vor Kälte und Erschöpfung zitterte. Er roch ihren Schweiß, er sah, wie stumpf und verfilzt ihr Haar war, er dachte an die starke junge Frau, die sie vor ein paar Wochen gewesen und von der nichts übriggeblieben war, und er musste an die Menschen denken, die, weit entfernt an sie dachten, sich um sie sorgten,
Weitere Kostenlose Bücher