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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ohne dass sie ein Wort wechselten. Mit Gesten warnte ihn der Sherpa vor Gletscherspalten oder wies auf markante Punkte hin. Hinter seiner Maske fühlte sich Jonas abgeschnitten von dem, was rund um ihn vorging. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und den eigenen Atem, und beide Geräusche waren ihm seit jeher suspekt gewesen, wohl weil sie ihn an den Moment denken ließen, da niemand sie mehr würde hören können.
    Hier und da fiel der Schein seiner Lampe auf einen toten Körper, einen Bergsteiger, der einst wie Jonas zum Gipfel aufgebrochen war und nun hier saß oder lag. Jonas hielt sich nicht lange mit Gedanken an diese Menschen auf. Später, im Basislager, oder in Kathmandu, da durfte er wieder denken.
    Es gab weniger Fixseile als erwartet. Jonas erklärte sich diesen leidigen Umstand damit, dass wegen des schlechten Wetters in dieser Saison noch kaum jemand über Lager 4 hinaus hatte vordringen können, und er hoffte, dass Lobsang und die anderen Sherpas, die schon eine Stunde früher aufgebrochen waren, wenigstens an den gefährlichsten Stellen Abhilfe habe schaffen können. Durch Schneefelder zu stapfen, in denen auch ein erfahrener Sherpa die Orientierung verlieren und in denen jederzeit eine Lawine abgehen konnte, fand er ohne Fixseile noch beunruhigender. Er hatte sich an das Gefühl von Sicherheit gewöhnt, das die Seile vermittelten, auch wenn das nicht mehr viel mit echtem Bergsteigen zu tun hatte.
     
    Geh einfach. Einfach gehen.
    Stundenlang.
    Sehnsucht nach der Sonne. Der einzige Gedanke: Sonne.
     
    Eine Felswand. Klettern.
    Sie kamen langsam voran, sehr langsam. Sie hatten zu einer Expedition aufgeschlossen, die vor ihnen losgegangen war. Immer wieder mussten sie warten, immer wieder im auflebenden Wind stehen und versuchen, sich warm zu halten.
    »Können wir an denen nicht vorbei?« fragte Jonas.
    »Keine Chance«, sagte Gyalzen. »Solange die uns nicht vorbeilassen, bleiben wir hinter ihnen.«
    »Und wieso lassen sie uns nicht vorbei?«
    »Hier lässt keiner jemanden vorbei.«
    Als Jonas die kurze Felswand hinter sich hatte, war er so ausgelaugt, dass er sich am liebsten in den Schnee geworfen hätte, doch Gyalzen trieb ihn an.
    »Nur eine kleine Rast!« bat Jonas.
    »Die Rast ist es, die dich müde macht. Solange man sich bewegt, lebt man. Weiter. Da vorne gibt es eine Möglichkeit zu überholen!«
    Die Aussicht, das Team vor ihnen, bei dem einige Mitglieder sichtlich Schwierigkeiten mit ihrer Ausrüstung hatten, endlich hinter sich zu lassen, erfüllte Jonas mit neuer Energie. Er folgte Gyalzen zu einem Schneecouloir, wo weit und breit keine Fixseile zu sehen waren. Die andere Gruppe zögerte, Gyalzen aber ging weiter, und Jonas blieb dicht hinter ihm, obwohl die Schmerzen in seiner Brust, als er bis zu den Knien im Schnee versank, ihm rote Funken durchs Hirn jagten und er zum ersten Mal kurz davor war, sich einfach in den Schnee fallen zu lassen und zu heulen, zu heulen und weiterzuheulen, bis diese Qual irgendwie ein Ende hätte.
     
    Hoch. Hoch. Weiter.
     
    Die ersten Sonnenstrahlen erschienen Jonas hinter seiner Maske wie Bilder aus einem Traum, ebenso wie die Gletscherspalten, die er im Licht besser erkennen konnte. Er dachte nicht darüber nach, was er tat, was er noch tun musste, was sich rund um ihn ereignete, er folgte nur dem schmalen Rücken vor ihm, an dem nun sein Leben hing.
    Er bemerkte, dass Gyalzen ab und zu etwas ins Funkgerät sagte, doch er konnte zwischen einem Funkgerät und sich selbst keinerlei Zusammenhang herstellen. Es gab keine Restwelt jenseits dieses roboterhaften Schnaufens, das er ständig hörte. Es gab nur diese Hänge. Den Schnee. Die Kälte.
    Ich habe hier nichts verloren, war sein einziger Gedanke. Echte Höhenbergsteiger sind Giganten. Ich bin keiner. Ich bin ein Eindringling in einer Welt, die für mich zu groß ist. Ich bin ein Hochstapler.
    Und später, schrill lachend: Jemand wie Marc oder Gyalzen ist ein Profirennfahrer, der aus Geldmangel einem Taxifahrer Unterricht geben muss.
    »Gyalzen! Gyalzen! Bin ich ein Taxifahrer?«
    »Setz die Maske wieder auf!«
    »Bin ich ein Taxifahrer?«
    »Was?«
    »Ob ich ein Taxifahrer bin!«
    Er fühlte den Blick des Sherpas, doch er konnte ihn nicht sehen, mit seinen Augen stimmte etwas nicht. Er bemerkte, dass Gyalzen hinter ihm an seinem Rucksack hantierte.
    »Was machst du da?«
    »Ich tausche deine Sauerstoffflasche gegen meine. Deine ist leer, in meiner noch ein Drittel.«
    »Wo sind wir?«
    »Weißt

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