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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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um dieses Bündel Mensch, für das der Berg hier zu groß war.
    Wenn es sonst keiner macht, bringe ich sie nach Hause, versprach er, sich selbst, ihr, wem auch immer.
    Eine halbe Stunde später, kurz nachdem die Sherpas Tee und Suppe ausgeschenkt hatten, zwängte sich Hadan zu ihnen in ihr Dreipersonenzelt.
    »Beine einziehen! Da draußen halte ich keine Sprechstunde!«
    Er setzte sich den dreien gegenüber, ungeachtet dessen, dass ihm der Wind das Eis, welches sich an der Innenseite des Zeltdachs gebildet hatte, bei jeder Böe ins Gesicht spritzte. Obwohl der Sturm ein wenig abgeflaut war, knatterten die Zeltwände so laut, dass man schreien musste, um sich zu verständigen.
    »Gute Nachrichten: Hank wurde auf die Normalstation verlegt. Habe heute schon mit ihm gesprochen. Er wird wieder ganz der Alte. Bloß auf den Everest wird er es wohl nie mehr schaffen.«
    »Das sind wirklich gute Neuigkeiten«, sagte Jonas.
    Die beiden anderen schwiegen.
    »Was ist los mit dir?« fragte Hadan Sarah. »Du hast schon mal besser ausgesehen.«
    Anstelle einer Antwort begann sie von neuem zu weinen. Sie schluchzte beinahe hysterisch und schnappte nach Luft, doch Hadan blieb ruhig. Erst stabilisierte er ihre Atmung, indem er eine Hand auf ihren Brustkorb legte, dann säuberte er mit seinem eigenen Taschentuch ihr Gesicht.
    »Sei stolz auf das, was du erreicht hast! Du hast dich aus eigener Kraft auf fast 8000 Meter hochgeschleppt, und du warst sehr tapfer. Du bist noch jung, du kannst noch oft wiederkommen.«
    Er beugte sich zu ihr und umarmte sie. Jonas rückte beiseite, um Platz zu machen, und für eine Sekunde meinte er, er sollte es jetzt sagen. Er sollte sagen, für mich war’s das auch, ich gehe runter, ich habe die Hölle bereits gestreift, es langt. Stattdessen fragte er:
    »Wann geht’s los? Meine Uhr ist stehengeblieben, wie spät ist es? Sechs? Wann brechen wir auf?«
    »Willst du bei diesem Wind da hoch?«
    »Müssen wir doch. Oder?«
    »Müssen wir nicht. Wir bleiben hier.«
    »Was heißt denn, wir bleiben hier?« fragte die Bankerin. »Wir gehen nicht hoch?«
    »Wenn das Wetter so bleibt, nein. Es sind noch andere Expeditionen angekommen. Ich höre mir mal an, was deren Leiter sagen. Im Augenblick halte ich es nicht für vertretbar, zum Gipfel zu gehen. Ich gebe euch Bescheid, wenn ich mehr weiß.«
    Er zwängte sich an sechs Beinen vorbei zum Ausgang. Die Bankerin hielt ihn zurück.
    »Wann gehen wir dann? Morgen? Ich will da endlich hoch, ich möchte es hinter mir haben!«
    »Mit dem Wunsch bist du nicht allein, aber die Faktenlage spricht dagegen. Entweder wir brechen heute gegen Mitternacht auf, weil das Wetter umschlägt, wonach es derzeit nicht aussieht, oder wir warten weitere vierundzwanzig Stunden.«
    »Vierundzwanzig Stunden? Hier? Da lege ich mich ja lieber einen Tag und eine Nacht neben die Startbahn eines Flughafens, da ist es ruhiger und sicherer!«
    »Es bleibt uns nichts anderes übrig.«
    »Was meint denn der Wetterbericht?«
    »Laut Wetterbericht ist es gerade windstill. Soviel zum Wetterbericht. Ich kläre mal ein paar Dinge und sage euch Bescheid. Ganz ruhig, wir schaffen das schon. Kümmert euch umeinander, vor allem um Sarah! Esst und trinkt ausreichend!«
    Als Hadan gegangen war, wollte keiner als erster etwas sagen. Der Wind heulte und riss am Zelt, und Jonas hoffte, dass er nicht stark genug war, um sie mitsamt dem Zelt über das ganze Plateau zu blasen.
    Gewettet hätte er nicht darauf.
    »Wir müssen überprüfen, ob wir noch so denkfähig sind, wie es die Situation erfordert«, sagte Jonas. »Geistige Beeinträchtigung ist hier oben ein schweres Alarmzeichen.«
    »Du hörst dich ganz vernünftig an«, sagte die Bankerin.
    »J-o-n-a-s.«
    »Was heißt das?«
    »Das ist mein Name. Ich buchstabiere ihn. Mit einem Hirnödem wäre man dazu wohl nicht imstande. Jetzt du!«
    »D-u h-a-s-t s-c-h-o-n w-i-e-d-e-r m-e-i-n-e-n N-a-m-e-n v-e-r-g-e-s-s-e-n. W-a-s i-s-t a-n A-n-d-r-e-a s-o s-c-h-w-e-r z-u m-e-r-k-e-n?«
    »T-u-t m-i l-i-e-d, n-i-b b-l-o-s-s m-ü-d-e.«
    »Oha«, sagte Andrea.
     
    Draußen der Sturm. Im Zelt Stille. Kraftlosigkeit, aber kein Appetit. Kälte.
    Schwäche, Dämmerzustand, Warten.
    Warten.
     
    Einmal nickte er ein. Es war kein richtiger Schlaf, es war ein Dahingleiten an der Grenze zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit. In diesem Halbtraum war Marie nicht Gestalt, sondern nur ein Name, sie war Schrift. Er ging neben einem Namen auf der Straße spazieren, er lag neben dem

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