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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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diesen Moment, eines Tages wird er dir nützen.
     
    Am Tag vor dem Rückflug trafen sie in einem New Yorker Restaurant Werners Eltern, die geschäftlich in der Stadt zu tun hatten.
    Bei Tisch herrschte angespannte Stimmung. Picco und Werners Vater würdigten einander keines Blickes, und Jonas rutschte auf seinem Stuhl hin und her und schaute auf seinen Teller hinunter. Er hatte schon gewusst, dass sich Picco und Werners Eltern aus dem Weg gingen, doch in dieser erbitterten Deutlichkeit hatte er ihre Differenzen nicht wahrgenommen.
    Was ist denn hier los? schrieb er unter dem Tisch auf seinen kleinen Notizblock und legte ihn unauffällig auf Werners Schenkel.
    Das würde ich auch gern wissen , schrieb Werner zurück.
    Geht das schon lange so?
    Der Boss redet mit meinem Vater seit Jahren nicht, und keiner sagt mir, warum.
    Frag einfach.
    Ich misch mich da nicht ein.
     
    Zum Glück hatte niemand Lust auf ein Dessert, und die Jungen durften mit Picco und Mrs. Hunt eine Vorstellung von Cats besuchen. Zunächst konnte Jonas der Handlung nur schwer folgen, weil ihm noch immer das missglückte Abendessen durch den Kopf ging und damit die Frage, wie es zu einem so traurigen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern kommen mochte, und ihn beschlich erstmals der ketzerische Gedanke, nicht alle Eltern würden ihre Kinder lieben, sie aus dunklen Gründen einfach nicht lieben können. Er versetzte sich in Werner, versuchte zu ergründen, wie es seinem Freund, der ungern über seine Gefühle sprach, gerade gehen mochte. Dann gewann das Interesse für das Stück Oberhand.
    Er fand alles überwältigend, die Atmosphäre des Theaters, die Musik, die schönen Menschen ringsum, die Kostüme, doch am meisten faszinierten ihn die traurige Grizabella mit ihrem wunderbaren »Memory« und der stolze Munkustrap, der Beschützer der Katzen. Jonas dachte nicht eine Sekunde mehr an das, was er bei Tisch erlebt hatte, bis er weinend in seinem Hotelbett lag, das scharf nach Waschmittel roch, und sich fragte, ob es auch einen Beschützer der Kinder gab oder vielleicht einen Beschützer aller Menschen.
     
    Der Rückflug ging spätabends. Alle lagen erschöpft in ihren Sesseln, bis auf Zach, der wie üblich eine Zeitung nach der anderen las. Werner war gleich nach dem Start eingeschlafen. Reginas Kopf ruhte an Piccos Schulter. Mrs. Hunt schnarchte mit weit geöffnetem Mund. Unter anderen Umständen hätte Jonas diese Situation auszunützen verstanden, doch irgendwo über Halifax, passend zu dem Gewitter, das sie durchflogen, schlug in seinem Kiefer ein Blitz ein. Er hatte noch nie richtige Zahnschmerzen gehabt, und auf das, was nun kam, war er nicht vorbereitet.
    Er tippte Zach an. Sprechen konnte er nicht, nur auf seine Backe deuten.
    »Was ist los, Junge? Schmerzen? Du siehst ja elend aus … Stewardess!«
    Eine unbestimmte Zeit später kehrte Zach mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück. Jonas schluckte sie und schloss die Augen.
    Er war geschockt, wie rasch und unbändig der Schmerz von ihm Besitz ergriffen hatte. Jede Welle begann mit einem Stechen, das breiter und breiter zu werden schien, das anschwoll, sich für eine herrliche Sekunde zurückzog, um gleich darauf spitz und böse wiederzukehren.
    Er begriff nicht, was vor sich ging. Mit einem Mal fühlte er sich unendlich fern von den Menschen, noch ferner als ohnehin. In seiner Not flehte er Gott an, diesen Albtraum von ihm zu nehmen. Die Worte kamen wie von selbst.
    Bitte mach, dass es aufhört. Bitte mach, dass es weggeht. Ich werde ein guter Mensch sein, ich mache keine Streiche mehr, aber bitte lass es aufhören.
    »Du hast Fieber, Kleiner«, hörte er Zach sagen.
    Eine Hand wurde von seiner Stirn gezogen, jemand legte etwas Kaltes darauf. Eine Decke wurde über ihn gebreitet. Mit geschlossenen Augen schluckte er eine weitere Tablette, und als er kurz vor der Landung aus tranigem, durch wirre Träume beschwertem Schlaf erwachte, waren die Schmerzen zwar noch da, aber erträglich.
    »Zu Hause sofort zu Doktor Singer«, sagte Picco. »Oder willst du hier in ein Krankenhaus?«
    Jonas schüttelte den Kopf.
    »Bis dahin hältst du es aus? Sicher?«
    Jonas befühlte mit der Zunge seine Zähne und nickte.
    »Zach, Sie besorgen ihm noch am Flughafen Schmerztabletten. Und sagen Sie dem Chefsteward, wir sind die ersten, die dieses Flugzeug verlassen, andernfalls steht er morgen in der Zeitung.«
     
    »Diese lästige Gewohnheit der Leute, dauernd Urlaub zu machen«, knurrte Zach einige

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