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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Stunden später vor Doktor Singers verschlossener Praxis. »Da steht, er hat eine Vertretung. Dr. Helmut Sokra. Was ist denn das für ein Name? Hört sich an wie ein durchgedrehter Maler.«
    »Aua«, sagte Jonas.
    »Na, wollen wir zu dem? Dürfte der nächstgelegene sein. Der ist allerdings neu in der Gegend, keine Ahnung, ob er was taugt.«
    »Lass uns fahren«, sagte Jonas matt.
    »Willst du noch eine Tablette?«
    »Wir sind ja gleich da.«
    Der nächste Ort war fünfzehn Minuten entfernt. Zach parkte den Mercedes auf dem Bürgersteig. In Sokras Wartezimmer, in dem es penetrant nach Desinfektionsmittel roch, fanden sie nur eine alte Bäuerin mit Kopftuch vor, die sich mit der klapperdürren Sprechstundenhilfe zankte.
    »Haben Sie Schmerzen?« fragte Zach die alte Frau.
    »Was für Schmerzen?«
    »Ob Sie Zahnschmerzen haben, will ich wissen!«
    »Nein, warum?«
    »Dann lassen Sie bitte den jungen Mann vor, er hat nämlich welche.«
    Er schob Jonas an den Schultern nach vorne. Die alte Frau brummte etwas und holte ihr Strickzeug aus der Tasche.
    »Die Reihenfolge der Patienten bestimme immer noch ich!« sagte die Sprechstundenhilfe schrill.
    Zach schaute sie an.
    »Ach ja?«
    Kurz darauf wurde Jonas aufgerufen. Dr. Sokra war ein schlanker, beinahe kahler Mann mit einem rotblonden Gestrüpp im Gesicht. Er sah Jonas nicht an und gab ihm nicht die Hand, sondern sagte bloß:
    »Setz dich da hin. Welcher?«
    Jonas gehorchte, eine unsichtbare Assistentin band ihm einen Umhang um. Er sperrte den Mund weit auf.
    »Ich glaube, der. Oder der daneben.«
    »Na, welcher jetzt? Du wirst mir ja wohl sagen können, was dir weh tut!«
    »Nein, leider nicht.«
    »Dann nehme ich dir eben beide raus. Vielleicht sind ja auch beide kaputt.«
    In diesem Moment, als sich Sokra über ihn beugte, holte Jonas ein Bild aus seiner Vergangenheit ein, das er tief in sich vergraben hatte. Er sah nicht den Zahnarzt über sich, sondern das Affe, wie es mit seinen dummen, böse funkelnden Tieraugen auf ihn herabstarrte, ehe es zuschlug. Und als sich die furchterregende Zange seinem Mund näherte, brachte Jonas nur zwei Worte hervor:
    »Keine Spritze?«
    »Das sind doch Milchzähne«, hörte er den Mann über sich sagen, und eine unheimliche Lähmung kam über ihn.
    Er fühlte die kalte Zange in seinem Mund, fühlte, wie sie an einem Zahn schabte, wollte schreien, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. Kurz darauf hatte er das Gefühl, ihm würde der Kiefer gespalten. Sein Kopf schien vor Schmerz zu bersten, und er sah über sich noch das giftige Gesicht Sokras, ehe ihm schwarz wurde vor Augen.
    Aus diesem Zustand riss ihn der zweite, womöglich noch entsetzlichere Schmerz. Er führte dazu, dass Jonas vom Stuhl rutschte und sich erbrach, was wiederum eine Unzahl von Flüchen und Beschimpfungen durch den Arzt zur Folge hatte. Mit hartem Griff zog er Jonas hoch und spülte ihm den Mund aus. Er ließ ihn auf einen Mullballen beißen und schärfte ihm ein, zwei Stunden lang nichts zu essen oder zu trinken.
    »Was ist denn mit dir los?« sagte Zach, als sich Jonas, von Eiseskälte durchdrungen und am ganzen Körper zitternd, Schritt für Schritt ins Wartezimmer zurücktastete.
    Im Auto begann Jonas leise zu weinen. Unablässig fragte Zach, ob er etwas für ihn tun könne, doch Jonas war nicht einmal zu einem Kopfschütteln imstande.
     
    Zu Hause verkroch er sich wortlos in sein Bett, erfüllt von Schmerz und Rachegedanken. Erst Stunden später konnte er wieder sprechen, obwohl er da bereits hohes Fieber hatte.
    »Du hast doch keine Milchzähne mehr!« rief Werner aus. »Und selbst wenn, was hat das eine mit dem … Keine Betäubung, ist der verrückt?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Ich weiß gar nichts, wollte er hinzufügen, doch das Stechen in seinem Kiefer und in seinem Zahnfleisch schnürte ihm die Sprache ab.
    Werner verschwand und kehrte Minuten darauf mit Picco und Hohenwarter zurück.
    »Der Arzt hat bitte was getan?« fragte der Boss.

7
     
    Jonas saß auf einem Klappstuhl vor seinem Zelt in der Sonne, als Hank Williams mit zwei Bechern Tee vorbeikam.
    »Hier, den habe ich selbst gemacht, bin gespannt, ob er dir schmeckt. Wir zwei hatten noch keine Gelegenheit, uns kennenzulernen. Oder willst du lieber lesen?«
    Jonas wies auf den freien Klappstuhl neben sich, auf dem eine halbe Stunde zuvor Helen gesessen war.
    »Bitte. So spannend ist das Buch nicht.«
    Hank nahm Platz und rieb sich seinen grauen Vollbart. Er musterte Jonas.
    »Du bist das erste Mal

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