Das größere Wunder: Roman
Inford-Skala?«
»Kennst du nicht? Brian Inford war ein Airforce-Pilot, der für seine wilden Manöver in der Luft ebenso bekannt war wie für seine Abenteuerlust. Von ihm stammt die Inford-Skala, mit der man Lebensgefahr misst. Was heißt messen, wir reden natürlich in erster Linie von subjektiver Einschätzung. Der Bursche ist mit dem Motorrad von einer Insel über einen Abgrund zur anderen gesprungen und hat dafür gerade mal 60 von 100 Punkten auf seiner Skala ausgegeben, das wären bei mir 99. Gestorben ist er übrigens beim Wechseln einer Glühbirne.«
»Stromschlag?«
»Von der Leiter gefallen.«
»Ich glaube dir kein Wort.«
»Gut so.«
»Jedenfalls hat sich niemand gewundert, als ihr in Schwierigkeiten geraten seid. Ich höre, ihr seid ohne Puja aufgebrochen.«
»Die können mich mal mit ihrer Puja«, sagte Marc und fing ohne hinzusehen den Betrunkenen von vorhin auf, der gestolpert war und auf ihn zu fallen drohte. »Immer dieses Gesinge und Gebete und dazu noch dieser Gestank. So einen Zirkus ertrage ich einfach nicht. Erzähl mir jetzt mal, was es bei dir Neues gibt.«
»Erzähl mir jetzt mal, was da oben passiert ist.«
»Ich weiß, dass du ungern über dich redest, aber dann erzähle ich auch nichts. Und so leicht wird man mich nicht los. Ich werde da am Berg ein Auge auf dich haben.«
»Was heißt das?«
»Ich gehöre jetzt zu euch. Ich habe mich Hadans Team als freier Bergführer angeschlossen. Als Freischaffender, wenn man so will. Als Konsulent.«
»Ein Everestkonsulent? Und wie hast du das vereinbart?«
»Erstens leuchtet es Hadan längst ein, dass seine Truppe vor allem qualitativ unterbesetzt ist, auch wenn er es nicht zugeben will, und er ist dankbar für jede Hilfe. Wusstest du, dass keiner seiner drei Bergführer je auf dem Gipfel war? Eben. Der eine ist mal bis zum Südsattel gekommen, das war’s. Zweitens bin ich der billigste, den er kriegen kann, denn ich koste gar nichts. Du kennst ihn ja mittlerweile ein wenig und weißt, dass ihm das zusagt.«
Neben Jonas wummerten plötzlich Technobeats aus großen Boxen, die ein hagerer Riese in Jeans aufgebaut hatte. An den Tischen ringsum, die von aufgekratzten jungen Leuten besetzt waren, machte sich Begeisterung breit. Ein Kahlkopf forderte die Kellnerin zum Tanz auf, und ein Koloss mit Motorradjacke stieg auf seinen Klappstuhl, der prompt unter ihm zusammenbrach und ihm das Gelächter der übrigen Gäste einbrachte.
»Unsere Expedition hierher erleidet gerade Schiffbruch«, schrie Marc gegen die Musik an und wies auf ein von Hand gemaltes Plakat an der Zeltwand. »Lies mal: Heute Abend Sagamartha Breezer zum ½ Preis, Musik: DJ Mallory, danach Dub Funk von Pierre & The Echolots . Ich habe echt nichts gegen gute Laune, aber wenn wir uns unterhalten wollen, sollten wir das Lokal wechseln.«
Marc klemmte einen Geldschein unter den Plastikaschenbecher auf dem Tisch. Fünf Minuten später saßen sie in einem offenen Zelt mit der Aufschrift Buddha Bar . Am Tisch neben ihnen telefonierte ein Mann über ein Satellitentelefon mit jemandem, den er offenkundig nicht leiden konnte. Ein Sherpa trat zu ihnen und bot ihnen mit verschwörerischer Miene die Frau an, die hinter ihm stand, keine Sherpafrau, sondern eine Chinesin, die mit gesenkten Schultern auf den Boden starrte. Bevor sie etwas sagen konnten, kam der Barkeeper dazwischen, ein junger Mann mit Rastafrisur, der überall tätowiert zu sein schien, an den Armen, an den Fingern, am Hals und sogar im Gesicht. Sie bestellten bei ihm zweimal Chang.
»Der Typ ist fürchterlich«, sagte der Barkeeper. »Wenn ihr auf der Suche nach so was seid, nicht hier in meiner Bar, okay?«
»Wir haben nichts dergleichen im Sinn«, sagte Marc.
Der Rastamann nickte. »Also zweimal Chang.«
Marc steckte sich eine Zigarre an und musterte Jonas so eindringlich, dass dieser sich auf eine gewichtige Frage vorbereitete. Hoffentlich nichts über Marie.
»Jetzt mal im Ernst. War es wirklich nur die Sonne, die dich gestern umgehauen hat? Was denkst du?«
»Ich bin kein Arzt, aber das halte ich für recht wahrscheinlich. Zumindest hat es sich so angefühlt.«
»Also nicht die Höhe?«
»Warum fragst du so?«
»Weil das wichtig ist. Wenn du schon so weit unten ein bedeutendes Problem mit der Höhe hast, eines, das sich in neurologischen Störungen auswirkt, solltest du nicht weitermachen. Da fliegen wir lieber nach Kathmandu zurück und ich zeige dir, welche raffinierten Cocktails mein Kumpel Joe in seiner
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