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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Jeden Abend diese Geschäftsessen mit rohem Pferd und rohem Huhn und rohem Schmetterling oder was weiß ich, mit Fischköpfen und zuckenden Tentakeln, weit und breit kein Steak, und diese Schlitzaugen sitzen da in ihren Anzügen und auf Socken und grinsen dich heimtückisch an, jaja, das esst ihr Westler nicht, jaja, das schafft ihr nicht. Als ob das ein Scheiß-Wettkampf wäre. Habe ich eben nur mehr Bier getrunken. Hat bessere Kalorien. Flüssiges Brot hat es mein Großvater immer genannt. Ist allerdings nicht sehr alt geworden. Aber jetzt erzähl mir doch endlich, wo du Marc Boyron kennengelernt hast. War das in der Antarktis?«
    Jonas steckte auch den zweiten Fuß zurück in den Schlafsack. In der Tasche seiner Jacke, die er als Kopfkissen benutzte, fand er einen Eiweißriegel. Zum Essen musste er sich zwingen. Seine Kehle fühlte sich wund an, das Schlucken schmerzte, und der erste Bissen blieb ihm im Hals stecken.
    »Nein, nicht in der Antarktis«, sagte er. »Ich kenne ihn aus Hossegor.«
    »Was ist denn das bitte?«
    »Ein Ort in Frankreich. Er war kurz mit einer alten Freundin zusammen. Morgen kann ich dir gern mehr darüber erzählen, doch jetzt gehst du raus, und ich schlafe eine Runde.«
    »Morgen? Was heißt morgen? Womöglich hast du doch ein Hirnödem und kratzt heute Nacht ab, dann nimmst du die Geschichte mit ins Grab! Raus damit!«
    »Gute Nacht!«
    »Aber sag mir nur, warst du da schon ein Bergsteiger?«
    »Sam, ich bin auch jetzt noch kein Bergsteiger. Geh und versuch Neuigkeiten über Hank zu erfahren, das interessiert mich weitaus mehr.«
    »Wenn du heute Nacht stirbst, bin ich sauer. Ich gehe, vielleicht finde ich jemanden, der etwas über Hank weiß und ein Bier übrig hat. Kann ich dich wirklich allein lassen? Du fällst mir nicht ins Koma?«
    »Menschenskind, wie gern würde ich ins Koma fallen! Raus jetzt!«
    Trotz des Schwindels und des fürchterlichen Stechens in seinem Kopf setzte sich Jonas auf und zog am Reißverschluss des Zelteingangs. Der Wind blies ihm feine Eiskristalle ins Gesicht. Der Geruch gebratener Bohnen stieg ihm in die Nase. Über den Bergen, die in der Dunkelheit noch massiger und bedrohlicher wirkten, leuchteten die Sterne, hoffnungslos fern. Er atmete weiße Wölkchen in die Nacht. Ein Gedanke an Marie blitzte in ihm auf, er verdrängte ihn.
    »Und du bist sicher, dass …?« fragte Sam.
    »Ja, ich bin sicher, dass.«
    Hinter Sam zog er den Reißverschluss zu und legte sich wieder hin. Seine Augen brannten, und er rang nach Luft. Er drehte sich auf die Seite, versuchte langsam und gleichmäßig zu atmen. Gedämpft drang Sams rauhes Lachen an sein Ohr, bald übertönt vom Grollen einer Lawine, die irgendwo an einem benachbarten Berg niederging. Danach hörte er nur noch den Wind, der mal leise ums Zelt strich, mal hart gegen die Wände schlug, als wollte er es umwerfen.
    Wind. Damals, kurz nach seiner mysteriösen Krankheit, hatte er ihn sehen können. Sehen wie eine Farbe oder einen Gegenstand.

22
     
    Wenn er nicht bald den Knopf drückte, würde der Fahrer nicht wissen, dass jemand aussteigen wollte. Er würde an der Haltestelle vorbeifahren. Jonas würde ein paar Kilometer zurück zu Fuß gehen müssen, und das gerade heute, gerade jetzt, wo er doch wusste, dass Vera zu Besuch kam, ja wahrscheinlich schon da war. Er würde Stunden auf der Straße zubringen, und die anderen würden vermutlich ohne ihn losfahren. Sie hätten Spaß am See, er würde marschieren. Es wäre ungefähr das Sinnloseste und Idiotischste, was er machen könnte.
    Die Landschaft zog am Fenster des Busses vorbei.
    Jonas drückte den Rufknopf nicht.
    Durch das Heckfenster sah er, wie die Haltestelle kleiner und kleiner wurde.
    Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er war erfüllt von einem überwältigenden Aufruhr, von Angst, Neugier, Glück. Zugleich fühlte er kaum noch den gepolsterten Sitz unter sich.
    Der Bus fuhr.
    Jonas saß.

23
     
    Wider Erwarten hatte Jonas Schlaf gefunden, und als sie sich bei morgendlicher Finsternis in Marsch setzten, fühlte er sich beinahe ausgeruht. So gut kam er voran, dass ihn Alex, der Bergführer, den ihm Hadan zur Seite gestellt hatte, allein weitergehen ließ und sich um schwächere Teammitglieder kümmerte.
    Zum vierten Mal durchquerte er den Eisbruch, hörte das Zusammenstürzen von Séracs und das unheilvolle Knirschen des Gletschers, zum vierten Mal tappte er mit Steigeisen an den Schuhen über wackelige Leitern, unter sich eine funkelnde Leere, die nach

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