Das größere Wunder: Roman
unser Zelt mit einer Bar verwechseln.«
Er saß da, zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, und ihm fiel nichts ein. Am Anfang hatte er es für eine gute Idee gehalten, ihr Briefe in die Zukunft zu schicken, ein paar Zeitkapseln für sie vorzubereiten, sie bei einem Notar zu hinterlegen, doch nun fühlte er sich mehr und mehr albern dabei. Außerdem gefiel ihm nicht, was er bisher geschrieben hatte, nämlich entweder selbstmitleidigen Quatsch oder schmalzige Liebeserklärungen. Wenn sie das in zwanzig Jahren las, fragte sie sich wahrscheinlich, was sie je an dem Kerl gefunden hatte.
»Pemba, was sind das für Geräusche?«
»Welche Geräusche?«
»Hörst du das nicht? Lass das mal mit dem Geschirr!«
»Du hast recht, da ist etwas.«
»Was befindet sich denn hinter dem Zelt?«
»Nichts Besonderes, glaube ich.«
»Sind heute nicht die letzten Sauerstoffbehälter geliefert worden? Wo habt ihr die gelagert?«
»O verdammt! Diese Diebe!«
Jonas nahm eine Stabtaschenlampe vom Tisch und rannte nach draußen.
24
Sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung am See kamen Vera und Werner zusammen, einen Monat später war es wieder vorbei, doch an ihrer Freundschaft änderte das nichts. Die Jungen zeigten Vera die Gegend, und an einem der ersten nicht verregneten Tage im April führten sie sie zu Harrys Schweinefarm.
Nach der Besichtigung, die Vera nicht interessierte und keine drei Minuten dauerte, packte Harry eine Kassette mit Tabak aus, in der ein fertiger Joint lag. Er steckte ihn an und gab ihn an Vera weiter. Sie machte einen tiefen Zug und blies den Rauch nach einer Weile durch die Nase aus.
»Das wirkt bei dir aber sehr professionell«, wunderte sich Jonas.
»Ist auch nicht das erste Mal«, antwortete sie und reichte den Joint an Werner weiter.
Werner schaute zu Jonas. Der zuckte die Schultern und nickte. Werner nahm einen Zug.
»Du musst die Luft drinbehalten, so lange du kannst«, erklärte Harry. »Ist echt gutes Zeug, ich hab’s von einem Freund, der gerade in Amsterdam war. Da kannst du das ganz legal rauchen und sogar kaufen. Coffee-shops heißen die Läden. Wisst ihr, wie er es über die Grenze gebracht hat? Er hat es unter großen Abziehbildern außen an die Zugwand neben seinem Fenster geklebt. Die sind mit Drogenspürhunden durch, aber gefunden haben sie natürlich nichts, zumindest bei ihm nicht. Kurz bevor er ausgestiegen ist, hat er die Abziehbilder runtergemacht und den Shit reingeholt.«
Jonas bekam den Joint von Werner, der mit aufgeblasenen Backen in der Wiese saß, nach dessen zweitem Zug weitergereicht. Er fing einen erwartungsvollen, fast lauernden Blick von Vera auf, die ihm gegenüber auf ihrer Jacke im feuchten Gras lag. Er machte einen Zug und tat so, als würde ihn das Brennen in seinen Lungen nicht bekümmern. Kurz darauf fühlte er einen angenehmen Schwindel. Er nahm noch einen Zug und gab den Joint an Harry weiter.
»Jetzt konsumieren wir auch noch Drogen«, sagte Werner.
»Wie das Leben so spielt«, sagte Vera.
»Hast du das schon öfter gemacht?«
»Jedenfalls so oft, dass ich jetzt hier sitze und nicht in Kiel.«
»Was soll das heißen?«
»Meine Mutter hat mich vor einem Jahr hierhergebracht, weil sie dachte, ich würde in Kiel drogenabhängig werden. Sie hat mich schon auf dem Strich gesehen. Die liest zuviel.«
Harry schüttelte den Kopf. »Wegen ein paar Joints landet man doch nicht im Elend.«
»Es waren ja nicht nur Joints.«
»Was hast du denn alles genommen?«
»Das ist jetzt egal, jedenfalls bin ich deswegen hier gelandet. Allmählich gewöhne ich mich dran. Auch wenn mir das Meer fehlt.«
»Das ist ja nett«, sagte Werner. »Das hören wir gern.«
»Sei nicht so empfindlich. Du weißt, wie es gemeint war.«
»Weiß ich zwar nicht, aber egal.«
»Das wollte ich euch schon lange zeigen«, sagte sie. »Kiffen ist gut. Es macht fröhlich und entspannt und friedlich.«
»Letzte Woche hat mir ein Typ, der schwer auf Gras war, eins auf die Nase gegeben«, sagte Harry. »Außerdem verblödet man.«
»Merkt man bei dir gar nicht so«, sagte Jonas.
»Weil ich nicht viel rede.«
»Kiffen ist somit abgehakt«, sagte Vera. »Ich habe da eine Liste, die muss ich mit euch abarbeiten. Sie ist Teil meines Erziehungsauftrags.«
»Harry, du sitzt näher dran«, sagte Werner, »kannst du ihr bitte ein Glas über den Kopf kippen?«
»Was steht denn noch auf der Liste?« fragte Jonas, während er sich bemühte, die wachsende Konfusion in seinem Kopf
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