Das größere Wunder: Roman
als wäre es eine Bar.«
Jonas war einverstanden, und so machten sie sich auf den Weg.
Seit seiner Ankunft schienen unzählige weitere Menschen ins Basislager eingezogen zu sein. Überall surrten Generatoren, wurden neue Gebetsbänder gespannt, riefen Sherpas einander Anweisungen zu. Immer wieder wurde Marc aufgehalten, wobei sich Jonas, dem der Sinn gerade nicht nach neuen Bekanntschaften stand, abseits hielt, und manchmal wies Marc ihn auf Bergsteiger hin, von denen er haarsträubende Anekdoten zu erzählen hatte, über selbstmörderische Klettertouren in Patagonien, in den Alpen oder im Yosemite.
»Die Hälfte dieser Leute müsste längst tot sein«, staunte Jonas.
»Vermutlich noch mehr. Das sind ja nur die Geschichten, die ich kenne. Ich muss immer lachen, wenn ich in der Zeitung über einen von denen lese, was für ein vorsichtiger Bergsteiger er sei. Hahaha, jede Wette, dass ich den schon ohne jede Sicherung durch dreißig Meter hohe vereiste Wasserfälle klettern gesehen habe. Vorsichtig, das ist das, was sie ihren Frauen zu Hause erzählen. Oder vielleicht sind sie wirklich so blöd und glauben, sie seien es. Sie sind es natürlich nicht. Man sollte es ihren Frauen und Kindern sagen.«
»Und warum sind sie es nicht?«
»Das ist mir auch ein Rätsel. Ich nenne es Hybris, und die nennen es Spaß. Mir macht es keinen Spaß, mir vorzustellen, wie meine Kinder weinen, weil ich von einer Tour nicht zurückkomme.«
»Wie geht es deinen Kindern? Philippe und Catherine, stimmt’s?«
»Die sind schon beide in der Schule. Er will Fußballer werden, sie Ärztin. Umgekehrt wäre es mir lieber. Sie fügt mir dauernd Wunden zu, nur um mich dann verarzten zu können, und er hat mir innerhalb einer Woche drei Fenster und das Aquarium zerschossen.«
Die Bar, die Marc ausgesucht hatte, bestand aus einem offenen Zelt, in dem außer einem kurzen Tresen aus Holzfässern einige Tische und Stühle standen, um die eine große Zahl an Wärmestrahlern aufgebaut war, sodass manche Gäste trotz der Abendkälte in über 5000 Metern ihr Bier im T-Shirt trinken konnten.
»Eigentlich pervers«, sagte Jonas bei diesem Anblick. »Yaks und Einheimische schleppen all dieses Zeug hier rauf, damit wir so tun können, als wären wir in unserer Stammkneipe.«
»Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich bin trotzdem dankbar dafür, ich kann es nicht anders sagen.«
Nachdem Marc der Kellnerin ihre Bestellung zugerufen hatte, schickte er einen Journalisten weg, der um ein Interview für die Online-Ausgabe seiner Zeitung bat, und fixierte Jonas, als wollte er seine Gedanken lesen.
»Nun verrate mir mal, wieso du mir nichts davon erzählt hast, dass du zum Everest gehst.«
Jonas zuckte die Schultern. »Ich konnte nicht wissen, dass du hiersein würdest.«
»Ganz egal, ich hätte dir die eine oder andere Information liefern können, die für dich nützlich gewesen wäre. Wie bist du auf die Idee gekommen, dich bei Hadan einzukaufen?«
»Hältst du ihn für keinen guten Expeditionsleiter?«
»Das ist weder, was ich gesagt habe, noch was ich sagen will. Aber du hättest dich direkt an mich wenden können. Ich hätte dir deine eigene Expedition zusammengestellt. Du hast da ja ein paar ziemlich unmögliche Leute in deinem Team, sowohl unter den Kunden als auch unter den Sherpas.«
Eine Kellnerin mit einer auffälligen blonden Langhaarperücke brachte das Bier. Ein Betrunkener rempelte Marc von hinten an, der wiederum eine größere Menge seines Getränks auf seiner Hose verschüttete. Der Betrunkene entschuldigte sich grinsend. Hinter ihm johlten seine Freunde, rotgesichtige Amerikaner, deren Markenkleidung eine Spur zu neu aussah.
»Hier laufen wirklich die unmöglichsten Leute rum«, sagte Jonas, »die gibt es wohl in jedem Team.«
»In unserem Team hätte es keine davon gegeben.«
»Ich kenne Helen, so hat sich das ergeben, es war eine Spontanentscheidung.«
»Ist sie gut im Bett?«
»Und ich mag Hadan. Ein interessanter Typ. Er erinnert mich an irgendjemanden.«
»Ich mag ihn auch, aber sein professorales Getue nervt manchmal. Also? Wie ist sie?«
»Ich mag gerade sein Getue, aber egal. Da wir nun keine gemeinsame Expedition aufgestellt haben, warst du mit deinen Landsleuten unterwegs. Was ist denn passiert? Hat sich ziemlich brenzlig angehört.«
»Erstens wurde das hier unten bestimmt wie üblich dramatisiert, das waren nicht mehr als 70 auf der Inford-Skala, und zweitens lenkst du ab. Ich …«
»Was ist denn bitte die
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