Das größere Wunder: Roman
ihm zu fassen schien. Im Morgengrauen begegneten ihm Menschen, er erkannte ihre Gesichter nicht. Ihm war kalt, er fühlte sich einsam.
Seit er von Europa aufgebrochen und nach Kathmandu geflogen war, hatte er die Gesellschaft eines Freundes noch nie so vermisst wie an diesem Morgen im Eis. Eine Stunde mit Tanaka beim Tee in der New York Bar in Shinjuku, ein Essen mit Shimon im Dolphin Yam in Jerusalem, eine Partie Squash mit José, ein paar Minuten bei Salvo, und er hätte sich etwas weniger klein und verloren gefühlt. Doch ein Zurück gab es nicht.
Außer Tanaka war Shimon der einzige gewesen, dem Jonas verraten hatte, wohin er ging. Warum, hatte dieser gefragt, warum tust du das? Jonas hatte nicht geantwortet, weil er längst aufgehört hatte, sich diese Frage zu stellen. Tja, hatte Shimon gesagt, ich werde leider nicht dasein, um deine Einzelteile aufzusammeln. Tja, hatte Jonas geantwortet, ich bin ja auch kein Jude.
Jonas’ Gedanken und Gefühle kreisten selten um ein Warum, sie waren besessen vom Warum nicht , von dieser lapidar wirkenden Frage, besessen von diesem Spiel. Einst hatte er es begonnen, ohne es zu verstehen, er hatte erst lernen müssen, dass das Warum nicht stärker war als das bloße Warum ? Es war aber auch stärker als man selbst. Auch das hatte er lernen müssen.
Im Basislager warf er seinen Rucksack ins Zelt, zog sich um und lief hinüber ins Messezelt, um Neuigkeiten über Hank zu hören. Zunächst musste er jedoch an Ort und Stelle eine Untersuchung durch einen zufällig anwesenden Arzt über sich ergehen lassen, der eigentlich zu einer anderen Expedition gehörte. Währenddessen erfuhr er, dass Hank mit dem Hubschrauber nach Kathmandu geflogen worden war.
»Ist jemand von uns bei ihm?« fragte Jonas. »Habt ihr seine Familie verständigt?«
»Evelyn, die in Kathmandu alles für unser Team organisiert, hat angeblich bereits im Krankenhaus auf ihn gewartet«, sagte Sven. »Sie wird sich wohl auch darum gekümmert haben.«
»Wie ist das überhaupt passiert?« fragte Nina, die kurz nach Jonas angekommen war.
»Ich habe ihn in seinem Zelt gefunden«, erzählte Pemba. »Er klagte über Übelkeit und Schmerzen in der Brust. Ich bin zum Zelt von Dr. Helen gelaufen, aber sie war schon weg. So bin ich zu Mr. Jim.«
»Wer ist das?« fragte Jonas.
»Der Kerl, der Sie gerade untersucht«, sagte der fremde Arzt neben Jonas.
»Angenehm.«
»Freut mich auch.«
»Und was war dann?«
»Als ich bei dem Patienten eintraf, war er nicht mehr bei Bewusstsein«, sagte Dr. Jim. »Herzschlag und Atmung funktionierten noch, also habe ich ihn an eine Infusion gehängt und empfohlen, ihn schnellstmöglich an einen Ort zu bringen, wo er intensivmedizinische Versorgung bekommen kann.«
»Sind Sie Kardiologe?«
»Hautarzt.«
»Und was meinen Sie, kommt er durch?«
Der Arzt nahm sich ein Stück in Plastik verpackten Kuchen vom Tisch. Erst jetzt bemerkte Jonas, dass ihm zwei Finger der rechten Hand fehlten.
»Ich darf doch? Danke. Ich würde sagen, wenn er es einmal nach Kathmandu geschafft hat, stehen die Chancen gut. Der stirbt denen schon nicht unter den Händen weg. Die sind prima, darf ich mir davon ein paar mitnehmen?«
Am frühen Abend erwachte Jonas in seinem Zelt und stellte überrascht fest, dass er vier Stunden ohne Unterbrechung geschlafen hatte. Erstmals seit langem fühlte er keine Schmerzen, nicht einmal kalt war ihm. Zwar würde dieser wohlige Zustand nicht lange andauern, doch in diesem Augenblick kamen ihm vor Dankbarkeit und Erleichterung fast die Tränen.
Er nahm ein Buch in die Hand und begann zu lesen. Weit war er noch nicht gekommen, als Marcs Gesicht am Zelteingang auftauchte.
»Bist du endlich wach? Wurde auch Zeit!«
»Du warst vorher schon hier?«
»Das ist das vierte Mal. Der Eisbruch hat es in sich, wie? Es ist weniger die physische Anstrengung als die Anspannung, die Angst, diese ständige Aufmerksamkeit, das Lauschen, ob im nächsten Moment irgend so ein Eisberg auf dich herabstürzt, das alles zehrt an den Nerven. Zieh dich um, wir gehen zur Ablenkung was trinken.«
»Ein Bier kriegst du auch bei uns im Messezelt.«
»Lass uns lieber eine Bar am anderen Ende des Camps suchen. Oder willst du ständig dieselben Gesichter um dich haben?«
»Hier gibt es eine Bar?«
»Na ja, nicht wirklich. Ein Zelt, in dem sie drei oder vier Tische aufgestellt und aus irgendwelchen Holzlatten eine Thekenimitation zusammengenagelt haben. Aber besser als nichts. Man tut so,
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