Das größere Wunder: Roman
Bar mixt.«
»Es war die Sonne«, beharrte Jonas. »Die Mütze hatte ich in den Rucksack gesteckt, als es heiß wurde, aber die Schirmkappe stattdessen rauszuziehen ist mir nicht eingefallen. Zudem hatte ich zuwenig Wasser dabei, ich war wohl ziemlich dehydriert, als ich ankam.«
»Jedenfalls will ich, dass dich ein Arzt ansieht.«
»Noch einer? Helen und dieser Jim haben keine Befürchtungen in dieser Hinsicht.«
Marc zog an seiner Zigarre, verschränkte die Arme und schüttelte energisch den Kopf.
»Jonas, ich habe mich umgehört. Diese Ärztin in deiner Expedition, deine hübsche Freundin Helen, ist das erste Mal in dieser Höhe, auch wenn sie so tut, als hätte sie schon Hillary persönlich auf den Everest gebracht, und sie ist nur deshalb bei euch, weil Hadan erstens auf sie abfährt und zweitens ein Geizkragen ist. Von Höhenmedizin hat die keinen Schimmer. Und dieser Jim war einer der unfähigsten Medizinstudenten, die je ihren Abschluss gekriegt haben, angeblich auch nur durch Beziehungen. Er arbeitet ja als Hautarzt, und mein Gewährsmann schwört, er war dabei, als der Wahnsinnige dem Fußpilz eines Jungen mit dem Lötkolben zu Leibe rücken wollte, weil er den Pilz für eine Ansammlung von Warzen hielt. Dort nennen sie ihn seither Lötkolben-Jim. Wahlweise auch Dreifinger-Jim. Seine Finger hat er nicht etwa wie jeder anständige Mensch beim Bergsteigen verloren, sondern beim Silvesterfeuerwerk. Der Kerl ist ein Trottel. Solchen Leuten sollte man nicht sein Leben anvertrauen. Haben sie mit euch Bluttests gemacht? Die Sauerstoffsättigung bestimmt? Haben sie dir ins Ohr oder in den Finger gepiekst?«
»Nein, wieso, ist das wichtig?«
»Dachte ich mir. Ich bringe dich morgen zu einem Freund. Danach weißt du, woran du bist.«
Jonas willigte ein, und sie wechselten das Thema. Er erkundigte sich nach einigen gemeinsamen Bekannten aus ihrer Zeit in der Antarktis, die er aus den Augen verloren hatte. Am längsten unterhielten sie sich natürlich über Anouk und ihren neuen Freund, einen ehemaligen Tennisprofi.
Über Marie sprachen sie nicht. Einmal bemerkte Jonas, dass Marc einen Augenblick zögerte, doch er redete schnell von etwas anderem.
In der Nacht konnte Jonas nicht schlafen.
Er wälzte sich hin und her. Erinnerte sich an Gesichter, dachte an Menschen, die er lange nicht gesehen hatte, an Ereignisse, die Jahre zurücklagen, an weit entfernten Orten stattgefunden hatten.
Er dachte über Marc nach. Er mochte ihn zwar, doch er war an diesen Berg gekommen, um allein zu sein. Zumindest bis zur Sonnenfinsternis. Der Everest nahm seit fünfundzwanzig Jahren einen Platz in seinen Träumen und Albträumen ein, und den Weg, der ihn hergeführt hatte, war er allein gegangen. Er wollte der Stille und dem Rätsel in sich nachspüren, er wollte Schritt für Schritt diesen Berg hinaufsteigen, ohne nachdenken zu müssen. Er wollte nicht über Freunde nachdenken, über alte Zeiten und Bekanntschaften. Marie, ja, sie war ohnehin immer in seinem Kopf.
Nach dem Everest gern. Wenn er wieder heruntergekommen war, würde er in Kathmandu sein Mobiltelefon einschalten.
Nimm dich nicht so wichtig. Milliarden Menschen vor dir haben geliebt. Die meisten davon hatten irgendwann Pech.
Wie spät es war, wusste er nicht, seine Uhr lag irgendwo am Fußende des Schlafsacks, und er war zu faul, sie zu suchen. Den abnehmenden Geräuschen menschlicher Aktivität zufolge, die von draußen zu hören waren, mochte es weit nach Mitternacht sein. Vermutlich würden die ersten bald wieder aufstehen, um auf dem Weg zu Lager 1 ihr Leben zu riskieren.
Ab und zu knirschten in der Nähe Schritte. Fern rumpelte eine Lawine zu Tal. Jemand übergab sich geräuschvoll, ein Hund kläffte.
Nachdem Jonas eine Weile darüber nachgedacht hatte, wie es war, seine Haustiere auf den Mount Everest mitzunehmen, hielt er es im Zelt nicht mehr aus. Er zog sich an, nahm den Brief an Marie aus der Mappe und ging hinüber ins Messezelt, wo er sich von Pemba Tee servieren ließ und ihm klarmachte, dass er im Moment an keiner Unterhaltung interessiert war.
»Verstehe, du musst einen Bericht schreiben«, sagte Pemba. »Ist es eine große Zeitung, für die du schreibst?«
»Pemba, ich lese Zeitungen nicht einmal, da werde ich doch nicht für sie schreiben. Gibt es Neuigkeiten von Hank?«
»Ich weiß nur, dass er im Krankenhaus liegt. Brauchst du mehr Licht?«
»Lieber nicht, sonst stolpern hier noch ein paar Nachtschwärmer rein, weil sie
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